Im Schatten des Drachen
machst.“
Bis hierhin war mein Psychologe mit mir auch gekommen. Nur leider hatte er mich niemals dazu gebracht, meinen Standpunkt zu ändern - und meinen Willen auch nicht.
Josefine fragte: „Wie weit bist du mit Marc?“
Ich zuckte zusammen, wie immer, wenn dieser Name unvermutet in mein Bewusstsein drang.
„Nicht weiter als vorher“, antwortete ich dann. Aggression und Schuldbewusstsein kämpften in mir, und die Rauchschwaden dieses Gefechts stießen mir bitter auf.
Josefine seufzte leise. „Soll ich mal ganz ehrlich sein, Hannes? Ich glaube, du läufst nicht einmal nur vor dir selbst davon, sondern auch vor ihm. Vor Marc und dem, was er mit dir getan hat. Du hast Angst, den Schlussstrich zu ziehen, weil du dann auch Bilanz ziehen müsstest. Und dabei würde er ganz schön beschissen dastehen. Ich weiß, du hast ihn geliebt, zum ersten Mal und von ganz tief innen, und du liebst ihn wahrscheinlich immer noch. Vielleicht glaubst du ja, es wäre Verrat an dieser Liebe, wenn du ihm den Schatten der Objektivität überwirfst, und egoistisch, weil es dein eigener Schatten wäre.
Aber Hannes: Marc hat nur von dir genommen. Paul dagegen kann dir auch etwas geben. Eine Menge sogar. Er sagte, er will auf dich warten, Hannes. Marc hat nie gewartet, er ist immer gekommen und gegangen, wie er wollte. Räche dich nicht an Paul für das, was Marc dir angetan hat.“
Minutenlanges Schweigen folgte. Ein Schweigen, das wir beide brauchten, um wieder zu uns selbst zurückzufinden: sie aus Dublin in ihre Küche, ich von Marc in mein Hotelzimmer.
Schließlich flüsterte sie mit unglaublich tiefer Zärtlichkeit in ihrer Stimme: „Im Moment tragen wir offensichtlich beide die Verantwortung für eine neue Seele in unserem Leben. Nur dass es bei mir noch gute acht Monate dauern wird, bis sie dir auch guten Tag sagen kann. Hoffentlich brauchst du mit Paul nicht ganz so lange.“
Erst nach einer kleinen Ewigkeit begann ich zu begreifen, was sie andeuten wollte.
„Du bist wieder schwanger?“
„Ja“, hauchte sie glücklich, „und du bist der erste, der es erfährt. Andreas werde ich es erst nächste Woche sagen, denn es ist noch sehr früh. Aber ich konnte es jetzt echt nicht mehr für mich behalten.“
Sie gluckste wie ein kleines Mädchen, und ich stimmte mit ein. Wie zwei verschworene Lauseschelme kicherten wir über unser süßes, kleines Geheimnis. Es war so wunderbar und so viele Jahre her, dass wir so etwas Intimes miteinander geteilt hatten. Eine Welle unendlicher Dankbarkeit durchflutete mich ob ihres Vertrauens in mich, und ich raunte durch den Hörer:
„Vielleicht wird es ja dieses Mal ein Junge? Sozusagen der Stammhalter, was?!“
„Ach“, entgegnete sie mit gespielter Empörung „damit ihr Männer dann in der Überzahl seid, wenn du mit Paul kommst?! Nein, nein, mein Freundchen, so haben wir nicht gewettet!“
Wir lachten noch einmal gemeinsam auf, dann drängte ich zum Ende des Gesprächs.
„Ich wünsche dir alles Gute, Finchen. Pass gut auf dich und das ganz Kleine auf. Und auf meine Sonne natürlich.“
„Natürlich. Und du auf dich, Hannes. Ich freue mich auf dich - und auf Paul.“
Erst als sie schon lange aufgelegt hatte, wurde mir bewusst, wie fest sie damit rechnete, dass Paul sich in mein und damit auch ihr Leben integrieren würde.
Die Leere, die Paul heute morgen in meinem Zimmer zurückgelassen hatte, umfing mich wieder wie der Nebel des irischen Frühherbstes, während ich fest zusammengerollt in meinen Laken wie ein Stein zwischen den uralten Mauern einer verlassenen Klosterruine lag. Ungezählt und ungelebt rauschten die Sekunden an mir vorbei, türmten sich zu Minuten und schließlich zu Stunden. Im Zimmer herrschte bereits wieder Dämmerlicht, und es würde nicht mehr lange dauern, bis draußen die Straßenbeleuchtung eingeschaltet wurde. Doch noch immer wagte ich es nicht, mich zu rühren oder aufzustehen, ja schon den Gedanken daran verbot ich mir. Denn das hätte bedeutet, weiterzumachen, die Niederlage in die Schublade ‚unangenehme Erinnerungen’ zu stopfen und darin vergehen zu lassen. Es würde bedeuten, Paul zu vergessen. Mir war jetzt schon klar, dass das nicht funktionieren würde. Sein Gesicht erschien vor meinem inneren Auge, so dicht und klar, dass ich die Sommersprossen auf seiner Nase zählen konnte. Ich tat es tatsächlich: es waren achtundzwanzig. Was er jetzt wohl machte? Plötzlich überkam mich eine heftige Sehnsucht danach, ihn zu fragen,
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