Im Schatten des Drachen
woran er gerade dachte, was er fühlte, ob er traurig war wie ich oder wütend oder ...
Ich bemerkte, wie ich in Gedanken versunken mit den Tasten meines Handys gespielt hatte. Erst jetzt ergaben die leisen Pieptöne einen Sinn für mich.
„Sorry, Paul. Du hattest recht. Ich muss das mit Marc endlich klären. Ich mache mich morgen früh auf den Weg. Vielleicht kannst du ja wirklich auf mich warten. Matty.“
Wie selbstverständlich hatte ich den Kosenamen benutzt, den er sich für mich ausgesucht hatte. Im Gegensatz zu mir hätte Miri daran nichts Ungewöhnliches gefunden. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob das nicht der Name war, den ich schon immer gesucht hatte. Weil er von dem Mann kam, den ich schon immer gesucht hatte? Mein Bein kribbelte plötzlich, wie voller Sehnsucht nach der zärtlichen Berührung seiner kühlen Finger, just in dem Moment, da ich so intensiv an ihn dachte. Ich drückte auf ‚senden’, und ein süßer Schauer durchfuhr mich bei dem Gedanken, dass er in wenigen Minuten meine Nachricht würde lesen können. Was er daraus würde lesen wollen, würde ich wohl niemals erfahren. Aber zumindest war ich es, der den letzten Satz gesagt hatte.
In einem kleinen Boot auf der Irischen See, zeitlos
Die See war weit und rabenschwarz. Riesige, unheilvolle Wellen bäumten sich unter einem kleinen Boot auf, ließen es tanzen und schaukeln wie eine hölzerne Nussschale. In dem Boot saßen Marc und ich. Wir ruderten aus Leibeskräften gegen die Urgewalt unter uns an; doch trotz der Gefahr schaute ich immer wieder selbstvergessen auf den kleinen Drachen auf Marcs Oberarm, der sich im Spiel der Muskeln bewegte - bis ich bemerkte, dass wir entgegengesetzt ruderten. Verzweifelt versuchte ich, mich auf Marc einzustellen, doch ich fand nicht in seinen Rhythmus, steuerte immer wieder gegen und brachte das Boot schließlich fast zum Kentern. Eine Welle brach sich über uns, und ich hörte ihn schreien.
„Verdammt, Jo, ich kann nicht! Ich kann nicht auf deiner Seite sein! Ich bin anders als du! Du bringst alles durcheinander! Wir gehören nicht zusammen!“
Seine Worte schmerzten mehr als der peitschende Gischthagel in meinem Gesicht. Im nächsten Moment sah ich mit vor Entsetzen geweiteten Augen die nächste Welle hinter ihm, haushoch und pechschwarz. Sie holte aus, und ich hatte keine Luft mehr in meinen Lungen, um seinen Namen zu rufen, keine Kraft mehr in meinen Armen, um ihn festzuhalten, keine Zuversicht mehr in meinem Herzen, um ihn mit mir da durchzubringen. Die Welle brach über ihm zusammen, ihr Klatschen dröhnte in meinen Ohren, und ich wusste, dass ich, sobald ich die Augen wieder öffnete, da nichts als undurchdringliche Schwärze sein würde, Finsternis, durch die keine blauen Augen mehr leuchteten.
Dublin, 13. September 2007
Der Traum der letzten Nacht arbeitete immer noch in mir, während ich meine letzte Tasse Kaffee trank und noch einmal einen Blick auf die Karte vor mir warf. Ich hatte mir gestern meine Reiseroute ausgesucht, den Koffer gepackt und einen Wagen gemietet, Automatic natürlich, denn etwas anderes ging mit meinem Bein ja nicht. Dem hatte der gestrige Tag im Bett sehr wohlgetan, und nachdem ich es heute Morgen besonders intensiv massiert und eingecremt hatte, fühlte es sich erstaunlich gut an. Fit für den letzten Teil einer langen Reise. Der Reise zu Marc.
Plötzlich fühlte ich mich beobachtet. Ich wandte mich um und sah im letzten Moment die hochroten Ohren des Hotelboys ins Foyer hinaushuschen. Hatte er nach mir gesucht? Normalerweise war er immer der erste, den ich morgens im Frühstücksraum sah, und es schien ihm Spaß gemacht zu haben, mich bei jeder Gelegenheit zu grüßen und anzulächeln. Seit gestern morgen wussten wir beide, dass es sich damit nun erledigt hatte. Vermutlich hatte er nur sehen wollen, wie er mir am besten ausweichen konnte.
Meine Hosentasche vibrierte. Instinktiv wollte ich danach greifen, das Handy herausziehen und die elektronische Nachricht sofort lesen; denn dass sie nur von Paul sein konnte, war mir sofort klar. Doch dann dachte ich an die schwarze Flut von heute Nacht, und mich verließ der Mut. Noch einen Sturm würde ich in meinem lecken Boot nicht überleben. Also lieber erstmal ein gutes Stück wegrudern! Halbherzig entschlossen stürzte ich den letzten Schluck Kaffee hinunter und erhob mich schwerfällig. Ein letztes Mal sah ich mich in diesem gemütlichen Raum
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