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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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zugleich schien er es zu genießen, dass seine Mutter von etwas verstört war, was nichts mit ihm zu tun und was er nicht verschuldet hatte.
    Als sie ankamen, betrat Victoria das Haus der Veliz’ gar nicht erst. Unerträglich war der Gedanke, jetzt in ihrem Zimmer allein zu sein. Im Laufschritt machte sie sich auf den Weg zu den Carrizos. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich dort selten wohl gefühlt: Immer waren da zu viele Menschen, immer ein zu großes Chaos, immer lag dichter Rauch von Zigaretten in der Luft. Und was sie am meisten quälte, war, dass Jiacinto sie nicht beachtete. Doch heute war ihr das alles egal, heute wollte sie, dass Rebeca laut über Aurelias Verhalten herzog, über sie lachte und spottete und Victoria das Gefühl gab, sie könne gerne auf diese unwürdige Freundin verzichten, sie hatte ja eine andere, viel bessere, nämlich sie, Rebeca.
    Doch als sie dort ankam, war Rebeca nicht da. Juan hatte ihr geöffnet und schien allein zu sein. Wie immer war er adrett gekleidet und musterte das übliche Chaos in der Wohnung mit sichtlicher Missbilligung. Doch obwohl es ihn anwiderte, räumte er niemals auf.
    »Komm rein«, sagte er zu Victoria, sonst nichts.
    Sie wusste nicht recht, was sie nun tun sollte, und da sie nicht nutzlos mitten im Raum stehen bleiben wollte, begann sie, die Aschenbecher zu entleeren. Ein Lächeln huschte über Juans Gesicht, Zeichen von Zustimmung, gar Dankbarkeit, doch laut sagte er: »Das musst du nicht tun.«
    Victoria war froh, sich mit irgendetwas beschäftigen zu können, das sie von Aurelia ablenkte, und setzte ihre Arbeit ungerührt fort. Nachdem sie die Aschenbecher gereinigt hatte, bückte sie sich, um Unrat vom Boden aufzusammeln.
    »Jiacinto und Rebeca mag es nichts ausmachen, aber du lebst nicht gern in diesem Chaos«, stellte sie fest.
    »Wohl wahr«, knurrte er unwillig, rührte jedoch keinen Finger, um ihr zu helfen.
    »Warum … warum lebt ihr überhaupt zu dritt?«, wagte sie jene Frage zu stellen, die ihr schon oft auf den Lippen gelegen, die sie aber nie ausgesprochen hatte. »Warum seid ihr allesamt nicht verheiratet? Nun, ich verstehe es bei Jiacinto, er ist Anarchist und gegen die Ehe. Und Rebeca wiederum ist keine Frau, die heiraten will. Aber du … du scheinst dich doch nach einem etwas … beständigeren Leben zu sehnen.«
    Er starrte sie zunächst nachdenklich an und schüttelte dann heftig den Kopf. »Das darf ich doch nicht!«, brach es aus ihm hervor.
    »Warum nicht?«
    »Hat dir Rebeca von unseren Eltern erzählt?«
    Victoria nickte und dachte an deren Worte – von jenem armen Anwalt, der sich für Gerechtigkeit einsetzte, aber seine Familie nicht ernähren konnte, von der ausgezehrten Mutter, die so viele Geschwister tot zur Welt gebracht oder im jüngsten Alter hatte sterben sehen müssen, ehe sie selbst viel zu früh verschied.
    »Weißt du«, fuhr Juan fort, »ich bin einfach nicht reich genug … Ich könnte eine eigene Familie nur mehr schlecht als recht ernähren.«
    Plötzlich stieg in Victoria das Bild von Aurelia auf – umgeben von Unmengen an Dienstmädchen und in diesem kostbaren Kleid, das wahrscheinlich so teuer war, dass eine normale chilenische Familie ein Jahr davon leben könnte. »Soll man etwa nur heiraten dürfen, wenn man genug Geld hat?«, fragte sie erbost.
    Juan zuckte die Schulten. »Was andere Menschen machen, ist ihre Entscheidung, aber für mich ist es so, dass meine Geschwister meine einzige Familie sind.«
    Er klang erschöpft und irgendwie auch traurig, aber bevor Victoria etwas sagen konnte, ertönte ein Lachen, erst aus Rebecas Mund, dann aus Jiacintos. Sie kamen gemeinsam und von einer größeren Gruppe zwielichtiger Gäste begleitet. Allesamt wirkten sie so dreckig und unordentlich, als hätten sie sich gerade geprügelt – und offenbar war es genau das, was sie in Hochstimmung versetzte. Obwohl Victoria sich sonst immer freute, Jiacinto zu sehen, fühlte sie sich plötzlich ähnlich erschöpft wie Juan. Auch der seufzte, als er die Unordnung, die sie gerade beseitigt hatten, erneut über ihn hereinbrechen wähnte.
    »Was habt ihr da zu bereden?«, höhnte Rebeca, die offenbar Juans letzten Satz vernommen hatte. »Ach, lass dir gesagt sein, Victoria – Juan ist einer, der sich gerne bemitleiden lässt. Der uns allen immer vorheult, warum das Leben kein Spaß ist, vor allem für ihn nicht, und der ständig die absurdesten Gründe aufzählt, warum er nicht glücklich werden kann.«
    Victoria

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