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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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steht dir die ganze Welt offen.«
    Andrés hatte sich nur mühsam verkniffen, ihn darauf hinzuweisen, dass er auf die ganze Welt gerne verzichten konnte, solange er eine eigene, kleine hatte, in der er sich wohl fühlte. Die letzten Monate hatte er sich meist in seinem Labor verkrochen, und die Aussicht, es zu verlassen, war wenig berauschend. Während der Vater unruhig auf und ab schritt und laut sinnierte, zu welcher Tageszeit er sich am besten anmelden sollte, erschien er Andrés weniger als Arzt, sondern als General, der einen Krieg plant – in diesem Fall keinen gegen ein feindliches Land, sondern um den sozialen Aufstieg und ein eigenes Krankenhaus. Die Taktik war die gleiche: Erst galt es, Verbündete um sich zu scharen – in seinem Fall Bekannte der Ober-, aber auch der Mittelschicht, wie einflussreiche Lehrer, Juristen, Ärzte oder Händler –, und dann genau zu überlegen, wann zuzuschlagen war.
    Er, Andrés, war einer seiner Soldaten, doch obwohl er wusste, was von ihm erwartet wurde, gab er sich störrisch: »Was soll ich dort?«, fragte er widerwillig.
    »Bei der Hochzeit hat Tiago kein Wort mit dir geredet«, erklärte Ramiro. »Du musst dich mit ihm versöhnen!«
    Andrés duckte sich unwillkürlich.
    »Es war einfach keine Zeit …«, setzte er an.
    »Du warst so dumm, dich dazu hinreißen zu lassen, Aurelia zu nahe zu treten – Gott weiß, was du an diesem Mädchen findest und warum du dich nicht besser beherrschen konntest! Jetzt bring es wieder in Ordnung!«
    Andrés’ Kiefer mahlten. Er fühlte sich zerrissen. Einerseits wollte er nichts mit Tiago zu tun haben und sich schon gar nicht mit ihm versöhnen. Andererseits wollte er ihn gerne leiden sehen, und zu diesem Zweck musste er in seiner Nähe sein. Und er war sich sicher, dass er leiden würde, jetzt, da der Ernst des Lebens begann, sein Vater ihn ganz und gar unter die Fittiche nehmen und sein Tagesablauf vollständig dessen Gesetzen und Vorstellungen unterworfen sein würde.
    Andrés nickte halb verdrossen, halb schadenfroh. »Also gut«, willigte er ein, »ich werde ihnen meine Aufwartung machen.«
    Am Tag darauf traf er bei den Brown y Alvarados’ ein und wurde von einem Dienstboten in den Salon geführt. Tiago und Aurelia waren gerade dabei, die Geschenke, die sie während der Hochzeitsreise für das Personal gekauft hatten, zu verteilen. Ein Dienstmädchen bekam ein buntes Halstuch überreicht, ein anderes freute sich über ein rosarotes Ding aus Porzellan.
    Unnützes, geschmackloses Zeug, dachte Andrés, während er sich umsah. Von der übrigen Familie war niemand zu sehen – William war wohl geschäftlich unterwegs, und die Krähe Alicia hockte gewiss oben auf ihrem Betstuhl, um einen Rosenkranz zu beten.
    Er räusperte sich, und alle fuhren zu ihm herum. Augenblicklich wurde es still. Die Dienstboten schienen die Spannung zu fühlen, die sich über den Raum senkte, rafften die Geschenke an sich und flohen hastig. Tiagos Gesicht versteinerte, Aurelia versuchte zu lächeln, aber es geriet hilflos.
    Er kam nicht umhin, sie eindringlich zu mustern und festzustellen, dass sie sich verändert hatte. Sie war schön wie immer, aber auf eine andere Weise: Das Gesicht wirkte blasser, die Figur noch schmaler. Vielleicht lag es am engen Mieder, vielleicht an der Anstrengung der langen Reise – auf jeden Fall war sie nicht auf diese lebendige, lebensstrotzende Art schön, sondern auf eine ätherische, als wäre sie nicht ganz von dieser Welt. Ihre Augen traten groß aus dem Gesicht hervor, ihr schwarzes Haar, das zu einem kunstvollen Knoten hochgesteckt war, glänzte, ihr roséfarbenes Kleid war ungemein elegant, verstärkte jedoch den Eindruck, dass ein Windhauch genügen würde, um sie umzuwehen.
    »Was willst du hier?«, kam es scharf von Tiago, dem sein aufdringliches Glotzen nicht entgangen war.
    Andrés zuckte zusammen und machte rasch eine dienernde Bewegung.
    »Tiago …«, brachte er hervor, »es tut mir leid … Ich meine, was geschehen ist, das war unverzeihlich. Ich war nicht ganz bei mir und …«
    Er geriet ins Stocken. Er hatte erwartet, dass es ein Leichtes sein würde, den Freund wieder für sich einzunehmen. Tiago war gutherzig, ein wenig naiv, er hatte ihm bis jetzt nie lange böse sein können. Doch sein Gesicht blieb zur Maske erstarrt. Nicht nur Aurelia hatte sich verändert, stellte Andrés fest, sondern auch er. Vielleicht hatte er endlich begriffen, dass es das Leben nicht einfach nur gut mit einem meinte,

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