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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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daran oder an einer der anderen schrecklichen Krankheiten starben – Diphtherie, Meningitis, Keuchhusten, Masern. So oft hatte Victoria hilflos an Krankenbetten gesessen und versucht, glühende Gesichter zu kühlen, das bedrohliche Pfeifen aus dem Kehlkopf zu überhören, Medizin einzuträufeln oder in einer Schweinsblase eingewickeltes Eis um den Hals zu legen. Nicht immer hatte sie den Kampf gegen den Tod gewonnen.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie die Frau. Sie wollte ihr das Kind abnehmen und es untersuchen, doch die Frau erklärte hastig: »Der Kleinen geht es gut, sie hat die Pocken überstanden. Aber ich …«
    Und wieder ertönte dieser Husten. Victorias Blick war geschult genug, um festzustellen, woran die Frau litt: Ihre Haut war schlaff und auffallend weiß, die Augen schienen in Flüssigkeit zu schwimmen, das Zahnfleisch war bläulich und das Haar schütter und weich. Vor allem aber spuckte sie beim Husten eitrigen Schleim aus.
    Victoria seufzte.
    »Ist es die Schwindsucht?«, fragte die Frau klagend.
    Victoria zögerte, ihr zuzustimmen. Zwar war sie sich ihrer Diagnose fast sicher, wollte aber noch einen Hoffnungsschimmer lassen. »Vielleicht ist es auch nur ein Bronchialkatarrh. Wo arbeiten Sie denn?«
    »Hier im Krankenhaus … in der Wäscherei … oh, bitte, bitte, wenn es die Tuberkulose ist, dann verraten Sie mich nicht!«
    Victoria seufzte wieder. Sie wusste: Frauen mit ansteckender Krankheit wie Tuberkulose durften nirgendwo beschäftigt werden – und Menschen wie Doktor Espinoza oder Schwester Adela beeilten sich stets, solche Fälle den Arbeitgebern zu melden. Gewiss, sie hatten nicht unrecht – auf diese Weise verringerten sie die Gefahr, dass weitere Frauen angesteckt wurden. Andererseits – wovon sollte diese Unglückselige mit ihrem Kind leben, wenn sie ihre Arbeit verlor?
    »Kommen Sie mit!«, forderte sie sie auf.
    Wenig später gab Victoria der Frau eine Packung »Kochs Präparat« aus dem Medikamentenschrank. Die Frau bedankte sich überschwenglich, und vor Erleichterung standen ihr Tränen in den Augen. Victoria bemühte sich, ihr Lächeln zu erwidern. Insgeheim war sie sich nicht sicher, ob sie der Frau tatsächlich geholfen hatte. An der Wirksamkeit des Präparats bestanden viele Zweifel.
    Aber besser als nichts, dachte sie.
    Als die Frau fort war, brachte sie weitere Medikamente an sich – Quecksilberpräparate gegen Geschlechtskrankheiten, Höllenstein, mit dem man die erkrankten Schleimhautstellen kauterisieren konnte, diverse Immunseren gegen Tetanus und Diphtherie. Dass man Bakteriengifte mittlerweile oft behandeln konnte und ihnen nicht mehr machtlos gegenüberstehen musste, faszinierte sie – so wie ihr Interesse für die Medizin und ihr Wissen und Können auf diesem Feld gewachsen waren. Manchmal haderte sie damit, nicht doch Medizin studiert zu haben wie Paulina Luisi, die erste Frau Südamerikas, die das Studium abgeschlossen hatte. Gewiss wäre es ein steiniger Weg, auf den ihr Menschen wie Doktor Espinoza viele Hindernisse legen würden, aber sie hätte dann mehr Autorität, sie könnte Reden halten, zum Beispiel bei feministischen Kongressen wie dem, der vor einem Jahr in Buenos Aires stattgefunden hatte und bei dem soziale, rechtliche und politische Themen diskutiert worden waren, und sie könnte …
    Sie zuckte zusammen, als sich plötzlich eine Hand auf sie legte. So in Gedanken versunken, hatte sie einen Augenblick lang nicht darauf geachtet, ob unbemerkt blieb, wie freimütig sie sich aus dem Medikamentenschrank bediente. Doch als sie herumfuhr, sah sie, dass es nur Rebeca war. Erleichtert ließ sie ihren Atem entweichen.
    »Bist du verrückt, dich anzuschleichen? Du hast mich zu Tode erschreckt.«
    Rebeca lachte. »Und bist du verrückt, am helllichten Tag Medikamente zu stehlen?«, gab sie spöttisch zurück.
    »Schwester Adela hat mich offiziell hierhergeschickt, um die Zutaten für Diuretischen Wein zu holen.«
    Victoria blickte in sämtliche Richtungen, aber Rebeca und sie waren allein.
    Stolz deutete sie auf ihr Diebesgut, das sie in einer Tasche, die sie unter dem Kleid trug, versteckt hatte.
    »Wir müssen es bald in den Armenvierteln verteilen.«
    Rebeca gab sich wenig beeindruckt. »Momentan ist etwas anderes viel wichtiger. Hast du schon gehört – diverse Textilhersteller streiken.«
    Kein Wunder, dachte Victoria – in den Fabriken herrschten schreckliche Arbeitsbedingungen.
    »Und wir müssen die Gunst der Stunde nutzen«, fuhr

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