Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Besuche in einer Oper wie dieser, wo sie in einer Privatloge gemeinsam mit Tiago Mozart gelauscht, Champagner getrunken und Eis gegessen hatte.
Plötzlich kam die Trauer um Tiago, die sie in den letzten Tagen weggeschoben hatte, mit aller Macht zurück. Erstmals weinte sie wieder, bis sie – nicht minder erschöpft als Tino – in den Schlaf sank. Sie erwachte mit einem dumpfen Gefühl in der Brust, konnte sich ihm aber nicht hingeben, sondern sammelte alle Kräfte, um die letzte Etappe der Heimreise zu bewältigen. Mit dem Geld, das sie noch hatte, kaufte sie ein Pferd und stieß mit Glück auf eine Gruppe englischer Händler, die in Richtung der Estancia aufbrachen.
In all den Jahren in der Ferne hatte sie sich das Heimweh verboten. Doch nun, da sie mit Tino, der vor ihr im Sattel saß und den sie fest an sich gepresst hielt, durch die immer vertrautere Landschaft ritt, ging ihr das Herz auf.
Trotz aller Trauer – das war ihre Heimat, das war Patagonien, karg, wild, grenzenlos. Binnen Stunden wechselte das Wetter, nur der Wind wehte ohne Unterlass gleich stark. Nichts Liebliches hatte die Weite an sich, dennoch gab es mehr Farben, als der erste Blick vermuten ließ: rötliche Erde in allen Schattierungen, dunkelbraune, fast schwarze Bäume, die auf dem trockenen Steppenboden wurzelten, das helle Fell der Guanakos, die wilde Sprünge vollführten und davonstoben, sobald sie Pferdehufe hörten. Erstmals dachte sie nicht daran, was sie alles verloren hatte, sondern es überkamen sie viele Erinnerungen an die Kindheit und Jugendzeit – und mit ihnen erwachte etwas von der alten Aurelia, die genau gewusst hatte, was sie wollte, und voller Leidenschaft für diese Ziele gekämpft hatte.
Tino gefiel es, zu reiten und zu schauen, er juchzte mehrmals freudig auf und begann erst zu quengeln, als Wind und Regen gleichzeitig in ihre Gesichter peitschten.
Als sie endlich ankamen, fühlte sich Aurelia stark und kraftlos zugleich – stark, weil sie nun auf vertrauter Erde stand, schwach, weil sie für ihr Leben nicht länger ganz allein die Verantwortung trug. Sie konnte sie auf Rita abladen, ihre Mutter, die als Erste auf den Hof gelaufen kam und sie mit einem Aufschrei erkannte, und auf ihren humpelnden Stiefvater Balthasar, der bald folgte und die Hände über dem Kopf zusammenschlug.
Als Aurelia die beiden sah, sank sie mit Tino auf dem Arm auf die Knie und glaubte, keinen Schritt mehr gehen zu können. Sie brach in Tränen aus, als sie von den Eltern umarmt und ins Haus gezogen wurde, man ihr Tino abnahm und sie mit Fragen überhäufte. Sie konnte keine einzige beantworten, lediglich, von der Wiedersehensfreude überwältigt, stammeln: »Es tut mir leid, es tut mir alles so leid.«
»Was tut dir denn leid?«, fragte Rita verwundert.
Erst als sie Matetee getrunken und Tino etwas Maisbrei zu essen bekommen hatte und auf ihrem Schoß einschlief, brach alles stoßweise aus ihr hervor, und sie berichtete von Tiagos Tod, aber auch vom Leben, das sie zuvor geführt hatte.
In den letzten Jahren hatte sie zwar immer wieder Briefe geschrieben, aber darin hatte sie nur vom Guten berichtet – über die Schattenseiten ihres Lebens hingegen geschwiegen. Nun bekannte sie alles schonungslos – dass sie ihre Herkunft verleugnet hatte, dass sie aufgehört hatte zu malen, dass sie sich manchmal in der steifen Welt der Reichen und Mächtigen so gefangen gefühlt hatte. Am Ende gingen die Worte in neuen Tränen unter.
Rita hatte voller Mitleid gelauscht, Balthasar verständnisvoll. Eben gesellte sich auch Ana zu ihnen, eine Russin, die einst als Freudenmädchen in Punta Arenas gearbeitet hatte, dann aber Emilia und Rita auf die Estancia gefolgt war und dort seit Jahren härter arbeitete als ein Mann.
»Hör auf, dich zu zerfleischen«, erklärte sie so nüchtern, wie sie immer war. »Was willst du denn? Scheinbar hast du sehr reich geheiratet, hast schöne Kleider getragen, köstliches Essen gegessen, ein rundum angenehmes Leben geführt. Viele verkaufen ihre Seele und ihren Körper und bekommen weitaus weniger dafür. In jedem Fall ist das kein Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Welt ist kein freundlicher Ort.«
Aurelia wusste nichts dazu zu sagen, aber Rita zischte verhalten: »Nun sei doch still.«
Ehe Ana noch etwas hinzufügen konnte, stürmten schon die Brüder in die Stube – Emilio, Arturo und Cornelio. Offenbar kamen sie gerade von der Schafschur, denn sie waren voller Wollstaub, blauer Flecken und
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