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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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Schnitte an den Fingern.
    »Mein Gott, wie groß ihr geworden seid!«, stieß Aurelia aus.
    Emilio war knapp dreizehn, Arturo und Cornelio waren immerhin schon neun und zehn. Ihre Körper sahen männlich aus, nur der Bart, der spross, war noch ein zarter Flaum. Sie umarmten ihre Schwester so selbstverständlich, als wäre sie nie weg gewesen, voller Zuneigung, aber auch mit üblicher Distanz, weil sie – als Mädchen und so viel älter – nie vollkommen zu ihnen gehört hatte. Sie hatten sie immer respektiert, weil sie streng zu ihnen sein konnte wie eine Mutter, aber zugleich geneckt, weil sie nicht so schnell ritt und Schafe schor. Nun wollten sie lediglich wissen, ob sie auf Besuch sei oder länger bliebe, lernten dann ihren Neffen kennen, der zu klein war, um sie sonderlich zu interessieren, stellten jedoch keine Fragen, warum sie ausgerechnet jetzt kam. Auch die Eltern schwiegen dazu und rührten an diesem Tag nicht mehr an offene Wunden.
    Obwohl das Leben auf der Estancia einfach war, sie kein fließendes Wasser hatten, das Bett hart war und zwischen allen Ritzen stets Sand und Staub knirschten, lebte sich Aurelia bald ein. Der Alltag war fordernd und voller Verzicht – doch das Leben war kein steter Kampf mehr. Sie schlief so gut wie lange nicht mehr, half mit den Schafen, bekam an der frischen Luft rosige Wangen und so viel Hunger, dass sie mit gutem Appetit aß, und freute sich nach einigen Tagen, Maril wiederzusehen, einen Tehuelche, die Ureinwohner Patagoniens. Einst hatte Ana ihm das Leben gerettet, und seitdem war sie so etwas wie seine Gefährtin, auch wenn sie niemals geheiratet und Maril das noch nie davon abgehalten hatte, tage- und wochenlang allein in der Steppe unterwegs zu sein und Guanakos zu jagen.
    Jedes Mal, wenn er wiederkehrte, weigerte sich Ana aus lauter Ärger, ihn zu begrüßen. Nicht dass sie ihn vermisst hätte, das stritt sie aufs entschiedenste ab! Aber was er da tat, war gefährlich. Die Estancieros ließen seit Jahrzehnten Jagd auf die Indianer machen, weil man sie des Diebstahls von Schafen bezichtigte, und es gab eigene Trupps von jungen Männern, die sie jagten, töteten, ihnen als Beweis für die Tat ein Ohr abschnitten und sich dafür bezahlen ließen.
    »Stell dir vor«, sagte Ana grimmig zu Aurelia, »in den letzten Jahren gab es immer mehr Indianer, die mit nur einem Ohr herumliefen, weil sie es sich freiwillig abschnitten, damit ihr Leben verschont würde. Irgendwann wollten die Estancieros darum zwei Ohren sehen, und als sich etliche nun eben beide abschnitten, verlangen sie nun einen Kopf geliefert zu bekommen, um noch zu zahlen.«
    Aurelia erschauderte, aber dann hoben Marils kräftige, riesige Pranken sie bereits hoch und pressten sie an seinen sehnigen Körper. Sie hatte es als Kind geliebt, von ihm getragen zu werden, atmete jetzt den vertrauten Duft seiner mit Öl eingeriebenen Haut ein und wollte ihn am liebsten nicht wieder loslassen. Irgendwann setzte er sie jedoch auf dem Boden ab und musterte sie eingehend. »Du hast traurige Augen«, stellte er fest.
    »Ich habe den Mann verloren, den ich liebe«, bekannte sie.
    »Unser Volk glaubt, dass der Schmerz um die Toten von verdorbenem Blut kommt, das nicht im Körper bleiben will. Um den Schmerz zu beenden, muss man dem Blut einen Ausweg schaffen.«
    Wütend schaltete sich Ana ein. »Bist du verrückt! Soll sie sich selbst verletzen, bis sie blutet? Hör auf, dumme Vorschläge zu machen – und zeig mir lieber, was du erbeutet hast. Dann ergibt es wenigstens Sinn, dass du dein Leben riskiert hast.«
    Aurelia wäre niemals auf die Idee gekommen, sich zu verletzen, aber in den Wochen, die folgten, dachte sie manchmal an Marils Worte. Obwohl sie in Patagonien fürs Erste zu Kräften kam, wusste sie oft nicht, wie sie die Trauer ertragen sollte – mal erschien sie ihr wie eine Last, die sie unmöglich tragen konnte, mal wie ein dunkler Berg, durch den sie sich ohne Aussicht auf Licht wühlen musste, mal wie Gift, das sie lähmte. So froh sie zunächst über die Heimkehr war und so dankbar, wie gut sich Tino einlebte – nach einem Monat war alle Euphorie verflogen. Sie wähnte sich nicht länger auf vertrauter Erde aufzublühen, sondern in einem Morast zu versinken, aus dem sie gerade mal den Kopf heraushalten konnte.
    Ihrer Mutter wollte sie die wahren Gefühle nicht anvertrauen, denn diese sorgte sich genug, aber Balthasar konnte sie nichts vormachen. Eines Tages kam er zu ihr ins Zimmer, wie immer mit

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