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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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sehen glaubte, die Welt vielmehr im lustlosen Grau versank – weiterhin Formen wahrnahm, ja, ein ganz überdurchschnittliches Gefühl für diese entwickelte.
    Einen Monat nachdem er in Kalifornien angekommen war, hatte er etwas gefunden, das ihm Halt gab und ihn davon abhielt, sich vor Verzweiflung ins Meer zu stürzen: Er hatte entdeckt, dass er nicht nur Englisch sprechen und gut mit Zahlen umgehen konnte, sondern dass er ein Talent zu zeichnen hatte.
    Auch an diesem Morgen saß er vor einem Skizzenblatt. Man hatte ihm im Büro des Architekten Lawrence Fisher mittlerweile einen kleinen Schreibtisch zugewiesen, und während er hier saß und seiner nunmehr täglichen Arbeit nachging, war er bei aller Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit auch dankbar: dankbar, dass es etwas gab, womit er sich ablenken konnte. Und dankbar für das Privileg, sitzend arbeiten zu dürfen.
    Am Anfang war das noch anders gewesen. Nach seiner Ankunft in San Francisco hatte er kaum mehr Geld gehabt und musste – um sich ein Bett und das Essen zu verdienen – am Bau anheuern, wo es in diesen Jahren immer etwas zu tun gab. Die Arbeit war hart gewesen, die Nachwirkungen seiner schweren Verletzungen hatten ihm zu schaffen gemacht, und seine Kollegen hatten ihn als Schwächling beschimpft. Aber eines Tages hatte er an einem Haus, das sie bauten, einen Konstruktionsfehler entdeckt. Er war selbst nicht minder überrascht als der Architekt, dem er davon berichtete.
    »Haben Sie jemals in meinem Beruf gearbeitet?«, hatte Lawrence Fisher gefragt.
    Jacob war sich alles andere als sicher, aber er bejahte die Frage und murmelte etwas von leidigen Lebensumständen und diversen Tragödien, die ihn sein Vermögen gekostet hätten.
    Lawrence Fisher hatte ihn mit ins Büro genommen und ihm den Auftrag erteilt, Bauskizzen anzufertigen. Erst hatte sich Jacob noch überfordert gefühlt, dann den Bleistift zunehmend begeistert umklammert. Das war etwas, was er kannte … und was er konnte.
    Unkonventionell würde er arbeiten, erklärte Lawrence später. Sein Gespür für Geometrie sei eher ein instinktives als mathematisch fundiertes. Aber er hätte Talent, ohne Zweifel.
    »Viel mehr als auf dem Bau kann ich Ihnen nicht zahlen, aber wenn Sie sich mit dieser Summe zufriedengeben, mache ich Sie zu meinem Assistenten.«
    Sein Beruf war fortan Jacobs einziger Lichtblick. Sein Geist fühlte sich wie betäubt an, wenn er morgens erwachte und abends schlafen ging. Nur wenn er zeichnete, war er hellwach. Die Erinnerungen blieben zwar auch dann hinter dem Schleier verborgen, aber schienen manchmal doch zum Greifen nah. Einmal zeichnete er keine Skizze für den Bau, sondern etwas ganz anderes – einen Mann und eine Frau inmitten einer wilden Landschaft. Ihre Gesichter waren unkenntlich, und er wusste hinterher nicht, wen er da gezeichnet hatte – sich selbst, seine Eltern oder einfach nur Fremde?
    Eben erstarb das Gemurmel im Büro. Jacob zuckte zusammen, als Lawrence vor ihn trat. Als Jacob ihm zeigen wollte, woran er arbeitete, winkte er ab. »Ich muss mit dir reden. Es geht … es geht um die Zukunft.«
    Jacob sank das Herz. Lawrence Fisher war Brite, sein Architekturbüro in San Francisco lediglich eine Filiale, während sich der Hauptsitz des Geschäfts in London befand. Die vielen Aufträge nach dem Erdbeben hatten ihn hierhergelockt, aber er hatte gegenüber Jacob mehrmals erwähnt, bald wieder nach England zurückkehren zu wollen.
    Offenbar stand der Zeitpunkt dafür nun fest. In zwei Wochen würde er abreisen, teilte er Jacob mit.
    Jacob versuchte, sein Entsetzen zu verbergen. Gewiss, das Architekturbüro würde weiterhin bestehen – doch Lawrence war sein größter Befürworter und Unterstützer. Die meisten anderen waren von ihm, diesem wortkargen, unnahbaren, geheimnisvollen Mann, befremdet.
    »Du hast doch keine Familie«, stellte Lawrence fest, während Jacob sich verzweifelt fragte, was nun aus ihm werden sollte.
    »Nein«, murmelte er. Er hatte nie jemandem anvertraut, dass er sich an nichts mehr erinnern konnte, aber es war offensichtlich, dass er allein lebte.
    »Nun, du könntest mit mir nach London kommen. Jemanden wie dich kann ich auch dort gut gebrauchen. Ich zahle dir sogar die Schiffspassage.«
    Jacobs Herz begann unrhythmisch zu pochen – nicht nur, weil er die Chance bekam, weiterhin zeichnen zu können, sondern weil in dem Augenblick, da der Name London fiel, ein Bild vor ihm aufstieg – das Bild eines weißen Hauses, das in dichtem

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