Im Schatten des Feuerbaums: Roman
seinem Skizzenblock bewaffnet. Anders als sie, die von ihm das Zeichnen gelernt hatte, tat er es wohl immer noch regelmäßig, auch wenn der Block nun, da er sich zu ihr aufs Bett setzte, geschlossen blieb.
»Du bist schrecklich unglücklich«, sagte er.
»Wer bin ich denn ohne ihn?«, gab sie zurück.
Sie rang mit ihren Händen, verkrampfte diese schließlich zu Fäusten.
Balthasar starrte darauf. »Deine Hände sehen aus, als würden sie sich verzweifelt an etwas festhalten wollen, aber nichts finden. Vielleicht wird alles leichter, wenn du ihnen etwas zu tun gibst, was du kannst.«
»Ich arbeite doch den ganzen Tag bei den Schafen.«
»Der Aurelia von einst, wie ich sie kenne, war diese Arbeit immer lästig. Sie liebte zwar die Schafe – aber sich um sie zu kümmern hieß, nicht zeichnen und malen zu können.«
Aurelia ließ ihre Hände sinken. »Auf der Hacienda, auf der mich William gefangen hielt, habe ich wieder angefangen zu zeichnen, aber jetzt weiß ich nicht, ob ich es jemals wieder kann.«
»Hm«, machte Balthasar. Er widersprach nicht, sondern sagte lediglich: »Nun, aber wenn du es könntest und wenn du es wolltest – was würdest du dann zeichnen?«
Sie musste gar nicht erst darüber nachdenken, das Bild erstand von selbst vor ihr, so stark, so eindringlich – das Bild, das sie einst in verschiedenen Varianten gemalt hatte, von sich und Tiago in Patagonien, wie sie Hand in Hand in die Weite starrten und dem Betrachter den Rücken zugekehrt hielten.
Stockend berichtete sie Balthasar davon.
»Vielleicht«, meinte er, nachdem sie geendet hatte, »vielleicht ist das deine Weise, mit ihm verbunden zu bleiben.«
»Aber …«
Er sagte nichts mehr, sondern überreichte ihr schweigend den Kohlestift und den Skizzenblock. Als sie ihn aufschlug, sah sie, dass er auf der ersten Seite ein Porträt gezeichnet hatte – von Aurelia, wie sie als Kind gewesen war, trotzig, willensstark, selbstbewusst.
Schweigend stand er auf und ging. Erst hockte Aurelia wie erstarrt da, umkrampfte dann den Kohlestift und blätterte weiter. Die nächste Seite war leer – doch nicht mehr lange. Wie in Trance zeichnete sie die ersten Striche, und kaum hatte sie damit begonnen, konnte sie nicht wieder aufhören, bis sie sich und Tiago auf Papier festgehalten hatte. Seine Züge waren nicht zu erkennen, jedoch sein welliges Haar, seine sehnige Gestalt.
»Ich liebe dich so, Tiago«, schluchzte sie, »ich liebe dich so.«
Trotz der Tränen hatte sie erstmals das Gefühl, wieder frei atmen zu können.
Die Trauer würde weiterhin eine treue Begleiterin sein, aber sie würde ihr nicht das Herz brechen, sie würde nicht an dem Verlust zugrunde gehen. Sie würde weiterhin zeichnen und weiterhin leben, und dieses Leben würde zwar nicht immer, aber manchmal eben schon ein gutes und erfülltes Leben sein.
Sein Leben war grau.
Zwar starrte Jacob manchmal auf das glitzernde Wasser in der Bucht von San Francisco, beobachtete die geschäftigen Bauarbeiten, die nach dem großen Erdbeben von 1906 überall im Gange waren, spazierte auf den steilen Straßen an vielen bunten Fassaden vorbei. Aber er hatte das Gefühl, er könnte keine Farben mehr sehen. Sie waren unter dem gleichen dichten Schleier verborgen wie seine Erinnerungen.
Anfangs hatte er so gehofft, dass fernab der Atacamawüste alles besser werden würde, jener Schleier ganz plötzlich aufreißen, die Vergangenheit sichtbar werden, aber wenn er ehrlich war, fühlte er sich orientierungsloser denn je. Seine Suche nach der Familie Foster hatte sich als Sackgasse erwiesen. Zwar gab es hier viele Menschen, die diesen Namen trugen, doch kein einziger war ihm irgendwie vertraut erschienen oder hatte seinerseits ihn erkannt. Er ging von Haus zu Haus, wurde manchmal höflich und hilfsbereit empfangen, manchmal wie ein Bettler oder Betrüger behandelt, und mit jedem dieser nutzlosen Besuche war die Gewissheit gewachsen: Er stammte doch nicht von hier. Dieses Land war ihm völlig fremd und nie eine Heimat gewesen, wo Verwandte und Freunde verzweifelt auf ihn warteten.
Anstelle von Verbissenheit, es nun eben andernorts zu versuchen, war seine Lethargie gewachsen, die resignierte Einsicht auch, dass mit bloßem Wollen nichts zu erzwingen war. Nicht länger kämpfte er nun um seine Erinnerungen, sondern – vor allem, nachdem sämtliches Geld von Salvador zur Neige gegangen war – ums nackte Überleben.
Dabei kam ihm zugute, dass er – auch wenn er keine Farben mehr zu
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