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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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die dunklen Vorhänge, die das Sonnenlicht beschnitten.
    Wie tief seine eigene Trauer ging, konnte er nicht recht sagen. Guillermo hatte ihm nie sonderlich nahegestanden, sie hatten zu unterschiedliche Wege gewählt, um den Anforderungen ihres Standes gerecht zu werden, und sie schienen nie die gleiche Sprache gesprochen zu haben. Dennoch war Tiago wahrhaft bestürzt über den viel zu frühen, sinnlosen Tod, und das Mitleid für die Eltern war echter und wärmer als alles, was er seit langem für sie gefühlt hatte.
    Als er den Vater im Salon sitzen sah – sein Schnurrbart war nicht pomadisiert, sondern stand nach allen Seiten ab, sein Körper schien geschrumpft, das Gesicht war leichenblass –, überkam ihn Sorge und … Rührung.
    »Vater, ich bin hier …«
    Guillermos Tod lag eine Woche zurück. Vor drei Tagen war er im Mausoleum der Familie bestattet worden. Tiago war dabei gewesen und hatte Aurelia an seiner Seite gehabt, doch der Vater hatte ihn kein einziges Mal angesehen. Sein Blick war starr gewesen, seine Bewegungen abgehackt.
    Nun war Aurelia bei Saqui in der Küche, er mit William allein, und endlich hob der seinen Blick und musterte ihn. Seine grauen Augen schimmerten feucht, doch als er den Mund öffnete, ertönte nicht das Schluchzen, das Tiago insgeheim erwartet hatte, sondern er erklärte nur mit rauher Stimme: »Man muss zurzeit auf den Dollar setzen, nicht auf den Peso. Die Regierung zieht zwar immer wieder Geld zurück, um genau das zu verhindern – aber meiner Meinung nach ist eine Inflation unausweichlich.«
    Tiago trat langsam näher.
    »Ach, Vater …«, seufzte er.
    William richtete sich ein wenig auf. »Es ist wichtig, dass du das weißt! Du musst all diese Dinge lernen, und das möglichst schnell! Du hast ja keine Ahnung, wie sich in den letzten Jahren die wirtschaftliche Lage verändert hat. Ganz neue Geschäftszweige sind entstanden und von großer Bedeutung. Nehmen wir die Bierindustrie. Sämtliche große Brauereien zwischen Santiago und Limache haben fusioniert. Sie sind von der Familie Cousiño und Edward gekauft worden, und die haben wiederum ihr Kapital von Kohle- und Kupferminen im Norden …«
    »Vater …«
    Tiagos Kehle wurde eng, nicht nur von Trauer, von Mitleid, sondern auch … von Furcht. Ein anderer, der William so reden hörte, könnte denken, dass die Trauer seinen klaren Geist verdunkelte und er sich verzweifelt an etwas klammerte, was er begreifen konnte. Doch Tiago ahnte, dass William trotz allem Kummer wusste, was er sagte. Und dass seine Botschaft lautete: Du bist jetzt der Erbe, du musst jetzt Guillermo ersetzen.
    Er hatte sich gewappnet, dass das auf ihn zukam. Aber nicht so bald damit gerechnet. Und er hatte sich nicht entschieden, wie er darauf reagieren sollte.
    »Der Nitratsektor ist immer noch die beste Einnahmequelle des Staats. Dementsprechend habe ich jahrelang in den Norden investiert. Aber man kann sich nie sicher sein, dass die Firmen dort Bestand haben. Jederzeit könnte ein Präsident wie Balmaceda gewählt werden und entscheiden, dass die ausländische Monopolbildung verhindert werden muss. Du bist zwar Chilene, Tiago, dennoch solltest du dich an meinen Rat halten: Man muss möglichst breit investieren, wenn man reich werden will, nicht nur in eine Branche. Da ist das Eisenbahnnetz, das sich immer weiter ausdehnt, oder der Schiffsverkehr. Und vergiss nicht: Die reichen Chilenen lieben alles, was aus dem Ausland kommt. Ob englische Wolle, französische Parfüms oder Maschinen aus den USA – das Importgeschäft wird unverändert blühen.«
    Schwer sackte sein Kopf gegen die Lehne und versank im Schatten. Obwohl er dem Blick der grauen Augen nicht mehr ausgeliefert war, vermeinte Tiago auf seinen Schultern eine schwere Last zu fühlen. Er ging neben dem Stuhl des Vaters in die Knie und tastete nach seiner Hand. Jenes Gewicht, das ihn bedrückte, rührte nicht nur von Williams Worten, sondern auch von dem, was Andrés ihm erst kürzlich vorgehalten hatte: Alles, was er erreicht hatte, verdankte er dem Vermögen und Ansehen seines Vaters. Er war privilegiert … aber hatte noch nie bewiesen, dass er von sich aus zu etwas taugte.
    »Vater, ich verstehe von diesen Dingen doch nichts.«
    »Dann musst du es lernen!«, schrie William unvermittelt. Ruckartig fuhr er hoch. Seine Hand umkrallte die von Tiago. »Du wirst Jura studieren, wie dein Bruder. Am Instituto Nacional. Dort geht es etwas schneller als an der Katholischen Universität. Und du

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