Im Schatten des Fürsten
er sich auf die Lippe beißen, um nicht laut zu schreien.
Die Spinne blieb stehen, ihre leuchtenden Augen bewegten sich hin und her. Sie berührte einen Moment seine Hand, dann lief sie einfach über seinen Arm und seine Schultern. Tavi verharrte still; sehr still. Die Glieder der Spinne strichen leicht über ihn hinweg, über die Hand, über Kopf und Rücken, ehe sie über Ellbogen und Hand weiterkroch, ohne ihn anzugreifen, ohne einen warnenden Pfiff auszustoßen, ja, ohne ihn anderweitig zu beachten.
Tavi drehte langsam den Kopf und beobachtete, wie die Spinne das Gleiche bei Kitai wiederholte und dann weiter zum Ende des Simses krabbelte, wo sie hellgrünes Kroatsch ausspuckte. Der Fleck wurde größer.
Wie benommen starrte Tavi lange Zeit Kitai an. Dann kam plötzlich Bewegung in ihn, und er zog sich hastig in den Tunnel zurück, fort von der mit Kroatsch gefüllten Höhle.
»Warum hat sie das gemacht?«, platzte Tavi heraus, nachdem sie den Tunnel hinter sich gelassen hatten. »Kitai, eigentlich hätte sie Alarm schlagen und uns angreifen müssen. Was hat sie davon abgehalten?«
Kitai trat gleich hinter ihm aus der Höhle, und selbst im trüben Schein der Canim-Lampe konnte er erkennen, wie bleich sie war und wie heftig sie zitterte.
Eine Moment lang stand er vollkommen reglos da. »Kitai?«, fragte er.
Sie erhob sich, schlang die Arme um sich, als würde sie frieren,
und richtete den Blick ins Leere. »Das darf nicht sein«, flüsterte sie. »Das darf nicht sein.«
Tavi streckte die Hand aus und legte sie ihr auf die Schultern. »Was darf nicht sein?«
Sie sah ihn erschüttert an. »Aleraner. Wenn … wenn die alten Geschichten … Wenn es stimmt, was die alten Geschichten meines Volkes sagen, dann sind dies die Vord.«
»Hm«, machte Tavi. »Die was?«
»Die Vord«, flüsterte Kitai und schauderte. »Die Verschlinger. Die Weltenfresser, Aleraner.«
»Von denen habe ich noch nie gehört.«
»Nein«, sagte Kitai. »Denn wenn du von ihnen weißt, ist es schon zu spät. Dann liegen eure Städte in Asche. Dein Volk flieht. Wird gejagt. So wie unseres einst.«
»Wovon redest du überhaupt?«
»Nicht hier, Aleraner. Wir müssen zurück.« Sie hob die Stimme, und Panik schwang in den nächsten Worten mit. »Hier können wir nicht bleiben.«
»Gut«, sagte Tavi und versuchte, beruhigend zu klingen. »Gut, komm.« Er nahm Vargs Lampe und machte sich auf den Rückweg aus den Tiefen, indem er nach den Zeichen suchte, die er an den Kreuzungen hinterlassen hatte.
Es dauerte eine Weile, bis Kitai wieder normal atmete. Schließlich sagte sie: »Vor langer Zeit lebte unser Volk an einem anderen Ort. Nicht in dem Land, das uns heute gehört. Einst lebten wir wie dein Volk. In Siedlungen. In Städten.«
Tavi zog eine Augenbraue hoch. »Das wusste ich gar nicht. Ich dachte bisher, bei deinem Volk gäbe es keine Städte.«
»Nein«, sagte Kitai, »heute nicht mehr.«
»Was ist mit ihnen geschehen?«
»Die Vord kamen«, sagte Kitai. »Sie fingen viele von meinem Volk. So wie diese Wolfwesen in der Höhle. Die sind besessen.«
»Besessen?«, fragte Tavi. »Du meinst, sie werden beherrscht? Sie sind irgendwie versklavt?«
»Schlimmer«, antwortete sie. »Die Wolfwesen, die du gesehen hast, wurden verschlungen. Alles in ihnen, das sie zu dem machte, was sie waren, ist verschwunden. Ihr Geist ist verzehrt, Aleraner. Nur der Geist der Vord bleibt - und die Besessenen kennen keinen Schmerz, keine Furcht, keine Schwäche. Der Geist der Vord verleiht ihnen große Kraft.«
Tavi runzelte die Stirn. »Warum sollten die Vord so etwas tun?«
»Weil es ihre Lebensweise ist. Sie vermehren sich. Erschaffen mehr von sich. Sie fangen, verschlingen und vernichten alles Leben, bis es außer ihnen unter dem Himmel nichts mehr gibt. Sie erschaffen sich selbst zu neuem Leben, neuen Arten.« Sie schauderte. »Unser Volk hat die Geschichten über lange Zeit weitergegeben. Entsetzliche Geschichten, Aleraner, die immer und immer wieder von Alt zu Jung weitergegeben wurden. Geschichten, bei denen sogar die Marat nahe am Feuer bleiben und sich des Nachts zitternd in ihre Decken wickeln.«
»Warum habt ihr diese Geschichten dann weitergegeben?«, wollte er wissen.
»Damit wir die Vord nicht vergessen«, sagte Kitai. »Zweimal haben sie unser Volk fast ausgelöscht und nur kleine Gruppen übrig gelassen, die ständig auf der Flucht waren. Das ist zwar lange her, trotzdem bewahren wir die Geschichten als Warnung, falls sie je
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