Im Schatten des Fürsten
zügelte das Pferd erst am eigentlichen Palasttor, welches gerade geöffnet wurde, als er abstieg. Kitai war gleich neben ihm.
Mehrere Wachen eilten herbei, zwei übernahmen die Pferde, und der wachhabende Zenturio nickte Tavi zu - obwohl sich ein gewisses Misstrauen in seinen Augen nicht übersehen ließ. »Guten Abend. Ich erhalte gerade die Nachricht vom Zitadellentor, dass ein Kursor auf dem Weg ist, der Kunde von einer Gefahr für das Reich bringt.«
»Der Winter ist vorüber«, sagte Tavi. »Antworte.«
Der Zenturio blickte ihn finster an. »Ja, ich weiß. Du benutzt die Losung des Ersten Fürsten. Aber ich frage mich doch, was bei den Krähen du dir dabei denkst, Tavi. Und wer ist das?« Er sah Kitai an und machte einen kleinen Wink mit der Hand. Ein leichter Windstoß blies Kitai die Kapuze aus dem Gesicht, so dass die Schlitzaugen und das bleiche Haar sichtbar wurden.
»Krähen«, entfuhr es einem der Wachleute, und ein halbes Dutzend
Schwerter wurden sirrend gezogen. Einen Augenblick später stand Tavi inmitten eines Kreises aus blitzenden Klingen und Soldaten, die bereit waren, ihre Waffen zu benutzen. Er spürte, wie Kitai zusammenzuckte und die Hand auf ihre Messer am Gürtel legte.
»Lass das Messer stecken!«, brüllte der Zenturio.
Die Wachen zitterten vor Kampfbereitschaft, und Tavi wusste, in den nächsten Augenblicken musste er eine Möglichkeit finden, sie aufzuhalten, sonst würden sie angreifen.
»Sofort aufhören«, schrie er. »Solange ihr nicht dem Ersten Fürsten erklären wollt, weshalb seine Wachen eine Botschafterin der Marat ermordet haben.«
Stille breitete sich aus. Der Zenturio hob die linke Hand, langsam, mit ausgestreckten Fingern, und die Wachen senkten die Waffen, wenn auch niemand seine einsteckte.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte der Offizier.
Tavi holte tief Luft, damit er mit ruhiger Stimme weitersprechen konnte. »Meine Herren, dies ist Botschafterin Kitai Patronus Calderon, die Tochter von Doroga, dem Häuptling der Sabot-ha , eines Maratstammes. Sie ist soeben in der Hauptstadt eingetroffen, und mein Befehl lautet, sie sofort hineinzubringen.«
»Davon ist mir nichts zu Ohren gekommen«, sagte der Zenturio. »Eine Frau als Botschafter?«
»Zenturio, ich habe dir meine Losung genannt, und ich habe mehr erklärt, als ich hätte müssen. Lass uns durch.«
»Warum hast du es so eilig?«, fragte er.
»Jetzt hör mir mal zu«, sagte Tavi und senkte die Stimme. »Der Sekretär von Botschafter Varg hat während der letzten sechs Monate Canim-Krieger in den Tiefen versteckt. Während wir hier stehen, sind wenigstens zwanzig von denen auf dem Weg zur Meditationskammer des Ersten Fürsten, um ihn zu ermorden.«
Dem Zenturio fiel die Kinnlade herunter. »Wie bitte?«
»Es gibt vielleicht einen Spion im Palast, schick also deine
Kämpfer so unauffällig wie möglich hinunter zur Meditationskammer.«
Der Zenturio schüttelte den Kopf. »Tavi, du bist doch nur ein Page. Ich denke kaum …«
»Wenn du kaum denkst, dann lass es lieber ganz«, fauchte Tavi. »Stell keine Fragen. Dafür haben wir keine Zeit. Wenn dir das Leben des Ersten Fürsten etwas bedeutet, setz dich einfach in Bewegung.«
Der Mann starrte ihn an, offenbar entsetzt über den Befehlston. Tavi hatte keine Zeit zu verschwenden, schon gar nicht mit diesem Zenturio. Die Wachen auf ihren Posten an der Treppe mussten sofort alarmiert werden, und sie waren zu tief im Berg, als dass sie ein Windwirker hätte erreichen können. Er wandte sich ab, rannte in den Palast und rief über die Schulter: »Nun mach schon! Schnell!«
Er eilte eine lange Marmortreppe hinauf in die Empfangshalle, die von einer Kuppel in der Größe eines kleinen Berges überdacht wurde, bog nach rechts ab und hastete durch die schwach beleuchteten Gänge. Es dauerte ewig, bis er die Treppe erreichte, und er fürchtete, er würde längst zu spät kommen. Am ersten Wachposten stieß er mit pochendem Herzen die Tür auf.
Vier Wachleute sprangen von ihrem Tisch auf. Münzen und Spielkarten flogen in alle Richtungen, da der Tisch umkippte. Die Männer zogen die Waffen. Zwei weitere, von denen einer seine Klinge gewetzt und der andere eine zerrissene Tunika geflickt hatte, erhoben sich ebenfalls und nahmen die Waffen zur Hand.
Zenturio Bartos öffnete eine Tür und trat aus dem Abtritt. Mit der einen Hand hielt er sein Schwert, mit der anderen seine Hose. Er sah Tavi kurz verwirrt an, aber dann stieg ihm die Röte ins Gesicht, was einen
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