Im Schatten des Fürsten
seinem Tod erhielten«, erklärte Gaius. Er zeigte auf die anderen Bilder. »Die hat sie alle gemalt. Aber als sie gehört hat, was mit Septimus geschehen war, ließ sie ihre Pinsel fallen. Und hat sie nie wieder angerührt.« Er betrachtete das Bild unverwandt. »Bald darauf wurde sie krank. Ich musste es bei ihrem Krankenbett aufhängen, wo sie es sehen konnte. In ihrer letzten Nacht nahm sie mir das Versprechen ab, es niemals wegzugeben.«
»Ich bedaure deinen Verlust, mein Fürst.«
»Das gilt für viele. Aus unterschiedlichen Gründen.« Er sah über die Schulter. »Miles?«
Miles neigte den Kopf und ging rückwärts zur Tür. »Gewiss. Soll ich etwas zu essen bringen lassen?«
Tavi wollte die Frage gerade reflexartig bejahen, hielt sich jedoch im letzten Moment zurück und sah nur Gaius an. Der Erste Fürst lachte. »Hast du schon einmal einen jungen Mann gesehen, der nicht hungrig war - oder es gleich sein wird? Und ich sollte auch mehr essen. Gut, und lass bitte auch den anderen etwas schicken.«
Miles nickte, grinste und zog sich leise aus dem Zimmer zurück.
»Ich glaube, in den letzten zwei Jahren zusammen genommen habe ich Ritter Miles nicht so häufig lächeln sehen«, meinte Tavi.
»Unheimlich, nicht?«, sagte der Erste Fürst. Er ließ sich auf einem der beiden Stühle nieder und bot Tavi mit einer Geste den anderen an. »Du möchtest bestimmt wissen, wie es deiner Tante geht.«
Tavi lächelte. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«
»Deine Familie ist mir sehr wichtig«, antwortete er ernst. »Deine Tante ist gesund und munter, und sie hat die ganze Nacht an deinem Krankenbett gesessen. Ich habe sie benachrichtigen lassen, als du aufgewacht bist. Vermutlich wird sie in Kürze in die Zitadelle kommen.«
»In die Zitadelle, mein Fürst?«, fragte Tavi. »Ich hätte gedacht, sie würde in den Gästezimmern der Zitadelle wohnen.«
Gaius nickte. »Sie hat die Einladung von Fürst und Fürstin Aquitania angenommen und wohnt für die Dauer von Winterend in ihrem Haus.«
Tavi starrte den Ersten Fürsten erschrocken an. »Sie hat was ?« Er schüttelte den Kopf. »Aquitanias Komplott hätte beinahe das Ende aller Wehrhöfe im Calderon-Tal bedeutet. Sie verachtet diesen Mann.«
»Das kann ich mir nur zu gut vorstellen«, erwiderte Gaius.
»Warum im Namen aller Elementare wohnt sie dann bei ihm?«
Gaius zuckte leicht mit den Schultern. »Sie hat mir ihre Gründe dafür nicht dargelegt, daher kann ich nur Vermutungen anstellen. Ich habe sie eingeladen, hier zu wohnen, in deiner Nähe, aber sie hat höflich abgelehnt.«
Tavi nagte gedankenversunken an seiner Unterlippe. »Bei den Krähen. Da steckt doch etwas dahinter, oder?« Plötzlich wurde ihm flau im Magen. »Sie ist ein Bündnis mit ihnen eingegangen.«
»Ja«, sagte Gaius ausdruckslos und ganz locker.
»Bestimmt ist sie … Herr, hat man sie dazu gezwungen? Oder Elementarkräfte eingesetzt?«
Gaius schüttelte den Kopf. »Nein, solche Dinge waren nicht im Spiel. Ich habe sie genau beobachtet. Und wenn jemand derartig beeinflusst wird, lässt sich das nicht verbergen.«
Tavi suchte verzweifelt nach einer Erklärung. »Aber wenn man sie eingeschüchtert oder bedroht hat, könnte man ihr dann nicht irgendwie helfen?«
»Das glaube ich nicht«, meinte Gaius. »Kannst du dir vorstellen, dass sich deine Tante durch Angst zu so einem Schritt bewegen lassen würde? Sie hat mir gegenüber keinerlei Zeichen von Angst erkennen lassen. Meiner Einschätzung nach hat sie ihre Treue gegen etwas anderes eingetauscht.«
»Eingetauscht?«
Es klopfte höflich an der Tür, und ein Diener trat ein und schob ein Wägelchen vor sich her. Dieses stellte er zwischen den Stühlen ab, klappte die Seiten auf, so dass es zu einem Tischchen wurde, und deckte es mit Schüsseln und Schälchen, bis ein großes Frühstück vor ihnen stand. Dazu gab es einen Krug Milch und einen zweiten mit Wein, der mit Wasser verdünnt war. Gaius schwieg, bis der Diener den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Tavi«, sagte der Erste Fürst dann, »ehe ich dir mehr erzähle, würde ich gern die Ereignisse der letzten Tage in allen Einzelheiten
mit dir durchgehen. Woran erinnerst du dich? Meine Erklärungen sollen dein Gedächtnis nicht beeinflussen.«
Tavi nickte, obwohl es ihm schwer fiel, noch länger auf Antworten warten zu müssen. »Sehr wohl, Herr.«
Gaius erhob sich, und Tavi folgte seinem Beispiel. »Ich denke, du bist sicherlich hungriger als
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