Im Schatten des Klosters - Historischer Roman
schon tot«, sagte sie gleichmütig. »Mach, dass du wegkommst.«
Barbara hörte ihn draußen auf der Gasse vor Wut kreischen und davonrennen. Sie senkte den Kopf, bis ihr Haar, das sich aus dem Knoten in ihrem Nacken gelöst hatte, vor ihr Gesicht fiel wie ein Schleier. Angst stieg in ihr auf und schnürte ihr den Atem ab. Sie konnte ihre Pläne immer noch ändern – es gab niemanden, dem sie verpflichtet war, außer sich selbst und einem Toten. Wo immer Gregor jetzt sein mochte, er würde es sicher verstehen; er war eher wie ein gütiger Vater um sie besorgt gewesen statt wie ein Ehemann (»Tu ich dir weh? Sag mir, wenn ich dir wehtue. Soll ich aufhören? Wir können es auf morgen verschieben.« So der Tenor seiner Worte in der Hochzeitsnacht). Vor sich selbst aber würde sie es nie rechtfertigen können, das wusste sie. Und ihre Träume würden andauern.
Barbara schluckte trocken. Der graugewaschene Holzboden vor ihren Augen drohte zu verschwimmen, als sie daran dachte, was sie vorhatte, doch sie drängte die Tränen zurück. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Wunsch des Gassenjungen bald Wirklichkeit würde, war groß. Aber was tauschte sie gegen den Tod ein? Das hier? Hildegard hatte Recht gehabt, dass sie nicht hierher gehörte, wenngleich ihre Schwester sich die Lösung dieses Problems sicher anders vorgestellt hatte.
Barbara dachte an den Mann, das Ungeheuer, und seine kalte Stimme, die mühelos durch Gregors Schmerzensschreie gedrungen war …
Die Angst wurde nicht besser, wenn man sie verdrängte. Barbara hatte auf diesen Augenblick gewartet, und jetzt war er gekommen.
Sie ließ den Besen fallen und marschierte mit schnellen Schritten zur Türöffnung. Als der Besenstiel auf den Boden schlug und das Geräusch durch die stille Badestube klang wie ein Peitschenknall, drehte sie sich nicht einmal um.
Im Gegensatz zu den anderen Händlern rund um den Dom hatte Iver keinen Karren, keinen Stand, nicht einmal einen festen Standplatz in einem der Seiteneingänge oder bei den Hütten der Handwerker. Iver trug nie Waren bei sich. Iver verkaufte keine Waren – er vermittelte. Für jedes Fingerknöchelchen, das ein Abenteurer aus einem Schrein gestohlen oder auf einem Kirchhof ausgebuddelt hatte und verkaufen wollte, gab es einen Käufer; für jeden Interessenten am Leichnam eines Heiligen gab es einen, der bereit war, diesen Leichnam gegen entsprechende Bezahlung zu … translozieren. Die Parteien mussten lediglich auf einer gemeinsamen Vertrauensbasis zusammenkommen; das war – lediglich! – der schwierigste Teil der gesamten Geschäftsabwicklung. Davon, dass es so schwierig war, lebten Leute wie Iver.
Ivers Taktik bestand darin, sich durch das Gewühl vor und nach den heiligen Messen treiben zu lassen. In der Regel hatte er stets mindestens zwei halbe Geschäfte an der Hand und suchte den jeweiligen Gegenpart dazu. Kam eine zusätzliche Gelegenheit, merkte er sie sich und kümmerte sich beim nächsten Mal darum. War sie dann bereits vergeben … nun, dann war sie seiner ohnehin nicht würdig gewesen. Gab es den Kauf- oder Verkaufsinteressenten immer noch, machte er Ivers Bekanntschaft. Iver nahm keine Geschäfte an, bei denen nicht ein gewisses Verzweiflungspotenzial im Spiel war, das seinen Vermittlungspreis in die Höhe trieb. Durch die langen Pausen, die Iver zwischen seinen Auftritten nahm und die indizierten, dass er entweder vor kurzem ein lukratives Geschäft gemacht hatte oder derzeit keinen lohnenden Handel erblicken konnte, umwehte ihn der stetige Ruch größter Geschäftigkeit und schwerer Erreichbarkeit; wen Iver ansprach und wem er sich zu erkennen gab, war fast immer heilfroh, ihn endlich gefunden zu haben und dadurch eher geneigt, Ivers unverschämte Preise zu akzeptieren.
Barbara schlich durch die Menschenmenge, den Rücken gebeugt, Kopf und Gesicht unter einem Tuch verborgen. Von fern wirkte sie wie eine alte Frau. Wenn Iver sie zu früh sah, bestand die Gefahr, dass er Reißaus nahm und sofort wieder eine seiner Geschäftspausen einlegte; und Barbara ahnte, dass sie es nicht durchhalten würde, ein paar weitere Wochen auf ihn zu warten und währenddessen der Gegenstand allgemeinen Unwohlseins im Haus ihrer Schwester zu sein. Vorsichtig spähte sie umher. Iver war klein, stämmig und unauffällig. Ihn in der Meute ausfindig zu machen, war nicht leicht, wenn man seine Gewohnheiten nicht kannte.
Barbara kannte zwei davon. Erstens, dass stets ein Leibwächter hinter Iver dreinlief, wobei
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