Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
fühlte sich mit dem kleinen Justin und dem Kapitän verbunden. Und natürlich auch mit Cäcilie, die jetzt laut schluchzte.
»Seit dieser Zeit kleidet sich Onkel Harry nur noch in Schwarz. Er ist immer schroffer geworden, selbst Mama kommt nicht mehr an ihn heran. Man erzählt sich, dass er kaum schläft und dass die Kerzen in seinem Haus bis zum frühen Morgen brennen.«
Wie jeden Abend schleppte Moritz den Eimer mit dem Abwaschwasser zur Twiete und kippte ihn in den Rinnstein. Er schaute sich um, doch Jette Jacobsen war nicht da. Gerade wollte er zurück in den Hof gehen, da streifte sein Blick eine Gestalt, die zusammengesunken auf den Stufen von Wilhelm Stehrs Ausrüstungsgeschäft saß. Der Kleidung nach konnte es nur Jette sein. Sie hatte ihre Arme auf die Knie gelegt, den Kopf darauf gebettet und schien zu schlafen. Zu ihren Füßen stand der gefüllte Wassereimer.
In diesem Augenblick rollte ein beladener Bierwagen von St. Annen heran. Die Pferde mussten einiges an Gewicht ziehen, und der Kutscher, hochrot im Gesicht vom Freibier, hatte einige Mühe, den breiten Wagen an den Begrenzungspollern und den Niedergängen zu den Wohnkellern vorbeizulavieren. Für einen Wassereimer war kein Platz mehr. Moritz hielt vor Schreck die Luft an. Die Pferde kamen gerade noch an Jettes Eimer vorbei, doch das Vorderrad des Wagens stieß gegen das Hindernis und kippte es um. Es schepperte laut, und ein breiter Wasserschwall ergoss sich zur Straßenmitte.
Jette Jacobsen bemerkte offensichtlich nichts davon, jedenfalls rührte sie sich nicht. Sie sieht aus, dachte Moritz erschrocken, als wäre sie tot. Er drückte sich schnell in einen Gang und ließ die Pferde und den Wagen vorbei. Dann griff er nach dem Eimer, derglücklicherweise unbeschädigt war. Er lief in seinen Hof, pumpte Wasser und kam mit dem vollen Eimer zurück. Vorsichtig berührte er Jette am Arm. Sie schreckte hoch und schaute ihn mit einem ausdruckslosen Gesicht und kleinen Augen an.
»Bist du müde, Jette?«
Sie rieb sich die Augen und gähnte. »Habe ich geschlafen?«
»Ja, ziemlich fest.«
Jette rückte auf den Stufen etwas zur Seite, so dass sich Moritz setzen konnte.
»Ich bin immer müde«, sagte sie, »Ich muss mich ständig um meine Geschwister kümmern, immerzu.« Sie drehte an einer Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. »Vater arbeitet den ganzen Tag, und Mutter ist auch weg. Sie ist Zugehfrau.« Jette zog den Rock über den Knien stramm nach unten, so dass der Saum über ihre nackten Füße fiel. »Es ist nicht leicht für die Eltern, uns Kinder satt zu bekommen. Sie müssen viel arbeiten.«
8
Als Moritz am folgenden Abend im Keller eine Ladung Löschsand in die Dosen füllte, hörte er über sich das Knarren der Tür. Er blickte hoch, doch der Schein der Kerze reichte nicht aus, um den ganzen Keller auszuleuchten. Dann waren Schritte auf den Stufen über ihm, leichte, vorsichtige Schritte. Bevor er sehen konnte, wer die Treppe herunterkam, roch er es schon: Cäcilie!
»Bist du es, Moritz?«
»Cäcilie, was willst du hier? Wenn dich deine Mutter im Keller entdeckt, gibt es einen fürchterlichen Krach.«
Er hörte ihr helles Lachen, dann stand sie vor ihm.
»Mama würde sagen, dass Mädchen von meinem Stand nichts in einem Keller zu suchen haben.« Sie kicherte. »Aber Mama hat sich zum Kartenspielen zur Bürgermeisterin fahren lassen. Und Vater und Alexander sind mit dem Gärtner auf dem Gewese, um nach dem Rechten zu sehen. Das Hausmädchen ist auch nicht da, die hat heute ihren freien Abend. Wir sind allein im Haus, Moritz!«
Sie raffte ihre Röcke und setzte sich auf eine Stufe. Da er nicht mit der Kerze in der Hand neben einem Mädchen stehen wollte, setzte er sich auch. Sogleich benebelte ihn der Duft von Frühlingsblumen, diesmal jedoch durchmischt mit den Ausdünstungen der Sauerkrautfässer.
Cäcilie schaute ihn an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Aufmerksam tasteten ihre Augen sein Gesicht ab. Dann blickte sie in den dunklen Keller hinunter. »Hast du eine Freundin, Moritz?«
Er dachte an Jette Jacobsen. Dann räusperte er sich umständlich, um Zeit zu gewinnen. »Nein, eigentlich nicht.«
»Ich habe auch keinen Freund.« Das klang traurig. »Ich hätte aber gerne einen. Einen, der mich immerzu küsst.«
Das Mädchen immer vom Küssen reden, dachte Moritz. Kann man sich mit ihnen nie über etwas anderes unterhalten?
»Ich habe noch nie einen Mann geküsst«, sagte Cäcilie leise.
Moritz
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