Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
seine Eltern einzuholen, doch er kam nicht weit. Hinter der nächsten Ecke stieß er mit einem Mann zusammen. Der Unbekannte fluchte leise, fast wäre er von Moritz umgerissen worden. Er war von schmächtiger Gestalt, seinen breitkrempigen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen. Moritz wollte sich gerade entschuldigen, da war der Mann schon wieder verschwunden. Wohin, hätte Moritz nicht sagen können, er hatte sich einfach in Luft aufgelöst.
Schnell schloss er zu seinen Eltern und Jan auf. Von dem Zusammenstoß mit dem Fremden sagte er nichts. Wahrscheinlich war es ohnehin nur ein Spaziergänger gewesen.
An diesem Abend traf Moritz Jette Jacobsen, als sie gerade einen Korb mit Wäsche über die Twiete schleppte. Er wollte ihr helfen, doch da hatte sie schon den Korb abgestellt und setzte sich auf die Stufen von Stehr.
Eine Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander. Moritz schaute dem Treiben auf der Twiete zu, und Jette hatte ihre langen, dünnen Arme um die Beine geschlungen und starrte vor sich hin.
»Ich bin jetzt vierzehn Jahre alt«, sagte sie.
»Ich weiß.« Er holte ein paar Murmeln aus seiner Jackentasche und ließ sie die Stufen hinabhüpfen.
»Im nächsten Monat werde ich eingesegnet. Dann ist die Schule zu Ende.«
»Das war bei mir auch so.«
»Vielleicht ziehe ich weg.«
Moritz hielt vor Schreck die Luft an, die Murmeln rollten unbeachtet in den Rinnstein, ohne dass er sie eines Blickes würdigte. »Wegziehen?«
»Mein Vater sucht eine Stelle als Hausmädchen für mich. Vielleicht muss ich nach Altona zu den Dänen. Oder insHannoversche.« Sie schaute ihn mit feuchten Augen an, ihre Unterlippe zitterte. »Meine Geschwister werden sich freuen. Endlich wird ein Platz im Bett frei.«
Moritz war wie vor den Kopf geschlagen. Jette, seine Jette, sollte wegziehen? Vorbei ihre gemeinsame Zeit bei Stehr auf den Stufen? Er fühlte sich plötzlich so kraftlos, als hätte er den ganzen Tag Steine geschleppt. Ihm war kalt, und er zog die Jacke vor der Brust zusammen. Jette lehnte sich gegen ihn. Moritz spürte ein Vibrieren, wahrscheinlich weinte sie. Unbeholfen legte er einen Arm um sie. Jetzt flossen die Tränen wie bei einem Deichbruch. Vielleicht sollte ich sie küssen?, dachte Moritz. Küssen macht glücklich. Aber ich kann sie nicht küssen, so richtig auf den Mund, ich küsse ja immer Cäcilie. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste die Tränen von ihren Wangen. Das war anscheinend falsch, völlig falsch, denn nun kamen immer mehr.
14
Den halben Tag lang hatten Anna Louise Schröder und ihre Tochter damit verbracht, ihre Garderobe zu sichten.
»Wir dürfen nicht gar zu neumodisch gekleidet sein«, erklärte Madame, »das ziemt sich nicht bei Herrn und Frau Senator Albers.«
Na, das kann ja langweilig werden, dachte Cäcilie.
Sie entschied sich für das dunkelblaue Samtkleid mit den Puffärmeln und dem großen Ausschnitt, das sie zu ihrem ersten Ball bekommen hatte. Doch mit dieser Wahl stieß sie bei ihrer Mutter auf Granit.
»Damit gehen wir nicht zu Albers!«, ordnete Madame mit scharfer Stimme an. »Herr und Frau Senator sind greise Leute. Ihre Vorstellungen davon, was sich gehört, stammen noch aus der Zeit des Wiener Kongresses. Ich kann nicht verantworten, dass Frau Albers an Schlagfluss stirbt, wenn sie dich sieht.«
Cäcilie begehrte auf. »Ich trage über dem Kleid doch den schönen Seidenschal mit den Brüssler Spitzen, den ich von Papa bekommen habe. Darunter kann man das Dekolleté kaum sehen. Außerdem ist Frau Senator fast blind.«
»Diese Frau sieht alles! Und sie hat eine sehr spitze Zunge.«
Widerwillig hängte Cäcilie das Kleid weg.
Das Hausmädchen kam mit den Miedern. Die Unterkleidung bereitete Cäcilie keine Schwierigkeiten, ihr Mieder musste nur wenig geschnürt werden. Anders sah es bei Madame aus. Das Hausmädchen schaffte es einfach nicht, ohne Hilfe eine einigermaßen sichtbare Taille hinzuzaubern, Cäcilie musste mit anfassen. Gemeinsam zerrten sie an den Bändern. Endlich, unter vielen Mühen, zeigten sich Ansätze der gewünschten Kontur. Madame ließ die Behandlung mit einem Stöhnen über sichergehen, doch dann trat ihr der Schweiß auf die Stirn, und sie atmete nur noch flach.
»Nicht so fest«, hauchte sie, »ich bekomme keine Luft mehr.«
Man gab etwas nach. Sofort nahm Anne Louises Figur ihre ursprüngliche Form an.
»Nein, so geht das nicht!«, schrie Madame entsetzt. »Mit dieser Taille kann ich mich nicht sehen lassen. Zieht wieder
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