Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
Ein Granitdenkmal tropft nicht, dachte er verbittert. Doch vielleicht war es noch zu früh mit dem Granit, er musste sich Zeit lassen, das würde schon noch werden. Schließlich kamen keine Tränen mehr. Ich will diesen Mörder von einem Kapitän nie wieder sehen, dachte er. Geschieht ihm recht, dass er nach Südamerika flüchten muss, hoffentlich geht es im dort schlecht. Vielleicht bringen ihn die Indianer um, das wäre die gerechte Strafe.
Moritz stand auf und zog seine Jacke glatt. Morgen würde er den Lehrvertrag kündigen, nie wieder wollte er in einem Kontor arbeiten, in dem ein Mörder – oder ein Anstifter zum Mord, das war ja wohl das Gleiche – Teilhaber gewesen war. Vielleicht würde er nicht gleich am frühen Morgen kündigen, eher nachmittags, auf jeden Fall aber kündigen.
Allerdings, und auch das musste bedacht werden, hatte er ja nicht genügend gehört am Steinhöft. Vielleicht beruhte alles auf einer Verwechslung, auf einem Hörfehler. Da galt es noch weiter nachzuforschen, denn irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass der Kapitän einen Mord geplant hatte, womöglich während er, Moritz Forck, im gleichen Raum am Pult stand. Sicher, er war ein düsterer Mann, und nachmittags machte er ein Gesicht zum Fürchten. Aber es gab viele Menschen mit düsteren Gesichtern, die würden hoffentlich nicht alle Mordgedanken haben. Obwohl – man konnte nie sicher sein. Erwachsene waren oft merkwürdig und genauso wenig zu durchschauen wie Mädchen aus gutem Hause.
Als er sich umdrehte, um nach Hause zu gehen, setzte sein Herzschlag für einen Augenblick aus. Gegen den Schein derKerzen in den Häusern sah er die Umrisse eines Mannes. Der stand da und rührte sich nicht. Er schaute zur Hebemaschine hin und wartete. Moritz erkannte ihn sofort. Es war der Schatten, den er nur ganz kurz in diesem schrecklichen Hof gesehen hatte, der Schatten, der den zweiten Ausgang blockiert hatte. Jetzt bewegte sich der Mann, er kam mit festen Schritten auf Moritz zu, unaufhaltsam. Sein Gesicht war nicht zu sehen, es lag im Dunkeln. Der Mann lachte ein raues, kehliges Lachen. Dann hustete er, in der Tiefe seiner Lungen rumpelte es wie ein Donnergrollen.
Was will der Zimmermann hier?, schoss es Moritz durch den Kopf. Hat der Klabautermann bemerkt, dass ich das Gespräch mitgehört habe? Soll mich Hinrich Quast jetzt aus dem Weg räumen, den letzten Mitwisser beseitigen? Nein, den vorletzten. Da ist noch der Patron, doch der gehörte ja wohl auch zu dieser Mörderbande.
Moritz reckte sich entschlossen. Noch hat er mich nicht! Ich bin diesem Zimmermann ja schon zweimal entkommen, vielleicht gelingt es mir noch ein drittes Mal. Außerdem bin ich jetzt bewaffnet. Er fingerte nach dem Paket in der Tasche.
»Habe ich dich erschreckt?«, fragte Hinrich Quast.
»Nicht das erste Mal«, sagte Moritz. Es sollte sicher klingen, männlich und kraftvoll, aber er konnte das Zittern in der Stimme nicht verhindern.
»Du hast mir das Leben reichlich schwer gemacht, Moritz. Hast mit Baumstämmen nach mir geworfen. Und mich in einen gefährlichen Händel mit dem Elbrandmörder verstrickt.« Der Schiffszimmermann spuckte seinen Auswurf auf die Straße. »Noch einmal nehme ich einen solchen Auftrag nicht an. Ich eigne mich nicht zum Schutzengel. Da soll sich der Kapitän jemand anderes suchen.«
»Schutzengel?«, echote Moritz.
»Ja, doch! Schutzengel. Eine miese Arbeit. Ich sollte dich schützen. Kapitän Westphalen war ziemlich schnell klar, dass du dich auf die Suche nach dem Elbrandmörder machen würdest. Er hatte Angst um dein Leben.«
»Aber er hat den Mörder doch selbst beauftragt!«
»Ja und nein. Ich hatte Kontakt zu diesem Verbrecher aufgenommen, aber der sollte dem Elbrand nur eine Abreibung verpassen. Sollte ihm einen Sack über den Kopf ziehen und ihn verprügeln. Mehr nicht.«
»Doch dann war Elbrand tot.«
»Ja, leider. Dieser Mensch hat unser Geld genommen und ist dann seinem eigenen Geschäft nachgegangen. Und das war Mord. Wahrscheinlich hatte er schon öfters gemordet.«
Nebeneinander gingen sie an den Vorsetzen entlang.
»Segeln Sie auch nach Argentinien?«, fragte Moritz.
»Natürlich! Kapitän Westphalen und ich gehen zusammen weg. Uns hat Elbrands Totenschiff, die K ONSUL H AGEMEISTER , zusammengeschweißt. Nur mit dem Unterschied, dass ich überlebt habe. Seine Frau und sein Sohn sind ja leider ertrunken.«
Moritz holte das Päckchen aus der Tasche, löste das Kabelgarn und wickelte das
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