Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
dem Wasserschout abgemustert werden und ihre Heuer erhalten. Danach werden sie aller Verpflichtungen ledig sein, wie der Dichter so schön sagt.«
Moritz blickte erstaunt hoch. »Warum müssen wir dabei sein?«
»Ich nehme immer die Auszahlung der Heuer vor. Ich werde unseren tapferen Matrosen, die ihr Leben für ihren Patron eingesetzt haben, den Lohn der Arbeit, Goldstück für Goldstück, in ihre schwielige Hand zählen.« Harms lächelte und richtete den Blick in weite Ferne. Dann kam er wieder ins Kontor zurück. »Und du bist der Protokollist.«
»Sollen wir das viele Geld zu Fuß durch die Stadt schleppen?«
»Nein, wir nehmen ausnahmsweise eine Droschke.«
Im Kontor am Steinhöft drängte sich die Mannschaft vor der Absperrung. Die Stimmung war gereizt, die Seeleute gaben sich keine Mühe, ihren Ärger zu unterdrücken. Es war bereits Mittag und die Heuer noch nicht ausgezahlt, wo doch die Schlafbaase, die Heuerbaase, die Schneider, die Friseure und auch die leichten Mädchen schon vor der Tür warteten.
Auf der anderen Seite des Raums, hinter der Schranke, ging es erheblich ruhiger zu. Hinrich Quast hatte zusätzliche Tische und Stühle herbeigeschafft, an denen der Kapitän der H ENRIETTE , seine Steuerleute und der Klabautermann Platz genommen hatten. Für den Kontorvorsteher und für Moritz war ein Seitentisch aufgestellt worden. Harms und Moritz drängten sich durch die Menge. Sie, genauer gesagt die Kiste mit den Eisenbändern, wurden von der Mannschaft mit großem Hallo begrüßt.
Nun erschien auch Wasserschout Jenssen. Er war ein brummiger, alter Kapitän mit einem erheblichen Körperumfang und einem beeindruckenden Vollbart. Der Wasserschout verkörperte die unumschränkte Autorität im Hafen, die Kraft ihres Amtes jene Seeleute zu Geldstrafen verurteilte, die während der Reise gegen den einen oder anderen Artikel der »Verordnung für Schiffer und Schiffs-Volk« verstoßen hatten. Seine Richtersprüche waren gefürchtet, entsprechend still verhielten sich jetzt die Matrosen.
Der Kapitän der H ENRIETTE rief den ersten Mann auf. Der nahm seine Mütze ab und trat vor die Schranke. WasserschoutJenssen starrte den Matrosen an, als wolle er ihn bei lebendigem Leibe mitsamt seiner Kleidung auffressen. »Haben Sie eine Beschwerde bezüglich der Seetüchtigkeit des Schiffes, des Verhaltens der Vorgesetzten oder der Verpflegung an Bord?«, dröhnte seine Stimme durch den Raum.
»Keine Beschwerde«, sagte der Seemann leise, ganz offensichtlich eingeschüchtert durch den drohenden Tonfall.
Der Kopf des Allgewaltigen drehte sich zum Kapitän der H ENRIETTE hin. »Gab es Verfehlungen während der Reise?«
Der Kapitän blätterte im Schiffstagebuch. Er gab vor, nach Belastendem zu suchen. »Keine Eintragung«, sagte er schließlich.
Der Erste Steuermann verkündete das Heuerguthaben, und das war nicht wenig nach einer Reise von fast einem Jahr. Kontorvorsteher Harms trat an die Schranke und zahlte das Geld aus. Als der Matrose den Betrag quittieren sollte, zögerte er.
»Was ist los?«, fragte der Klabautermann schroff.
»Ich habe schon lange nichts mehr geschrieben«, sagte der Matrose kleinlaut.
»Dann machen Sie ein Zeichen.«
Der Seemann kritzelte etwas in das Buch, Wasserschout Jenssen drückte seinen Stempel in die Abmusterungs-Bescheinigung, Moritz protokollierte. Hinter dem Namen des Matrosen vermerkte er »Keine Beschwerden« und »Keine Eintragung« sowie den Heuerbetrag.
Als der Mann mit seinem Geld vor die Tür trat, erhob sich dort ein begeistertes Geschrei. Die Meute stürzte sich auf ihn wie Piraten auf einen Goldschatz – was er auch tatsächlich war.
Ein Seemann nach dem anderen wurde aufgerufen, die Zeremonie war stets die gleiche. Wasserschout Jenssen zeigte bald Ermüdungserscheinungen angesichts der großen Mannschaft. Oder er dachte bereits an das bevorstehende Mittagessen. Plötzlich wurde es unruhig. Auf die Routinefrage antwortete ein Seemann mit klarer, lauter Stimme: »Ja, ich habe eine Beschwerde vorzubringen.«
Der Wasserschout riss unwillig die Augen auf, die Köpfe des Kapitäns und der Steuerleute ruckten nach oben.
»Worüber wollen Sie sich beschweren?«, fragte Jenssen lauernd.
»Über das Essen.«
Ein Lächeln glitt über das Gesicht des Kapitäns, er lehnte sich entspannt zurück. Moritz protokollierte mit fliegender Feder, über die korrekte Orthografie konnte er sich keine Gedanken machen, das würde später kommen.
»Wurden während der Reise zu
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