Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
Er packte die Briefentwürfe aus, die er noch schnell in die Aktentasche gepackt hatte, und versuchte sich an einer Übersetzung.
Im Kontor war es still, es war eine unangenehme, lähmende Stille. Hinrich Quast stand immer noch in der Tür – breitbeinig, unbeweglich, schweigend. Etwas Bedrohliches ging von ihm aus. Der Zimmermann ist der Gefängniswärter, dachte Moritz, und ich bin sein Gefangener. Er gruselte sich ein wenig.
Plötzlich war es vorbei mit der Stille. Von weit hinten, von der Admiralitätsstraße, hörte Moritz ein vielstimmiges Geschrei und Getrampel. Schnell war er am Fenster und blickte zu den Vorsetzen. Zu sehen war nichts, doch der Lärm wurde stärker. Es war nicht das übliche Rufen, das von den Schiffen herüberschallte, wenn geladen oder gelöscht wurde. Dieses Rufen hörte sich nach Jagd und Verfolgung an. Auch Hinrich Quast hatte den Lärm gehört. Er hatte die Schultern hochgezogen und den Körper vorgebeugt wie ein Tier kurz vor dem Sprung. Er starrte in die gleiche Richtung wie Moritz.
Dann sahen sie es. Da hetzte ein Mann den Steinhöft hinunter, auf das Baumhaus zu. Hinter dem Mann rannte ein Polizist. Der war schnell und kam dem Flüchtenden immer näher. Weiter hinten, ziemlich abgeschlagen, trampelten weitere Polizisten sowie Männer in den Uniformen des Bürger-Militärs und der Nachtwache. Sie brüllten etwas, das Moritz nicht verstehen konnte, weil alle durcheinanderriefen. Doch als sie näher kamen, konnte er es hören: »Haltet den Mörder!« – »Stellt Euch in den Weg!« – »Vorsicht, er hat ein Messer!«
Mit zwei Schritten war Hinrich Quast im Kontor, riss mit einem schnellen Griff die Bola von der Wand und stürmte auf den Steinhöft hinaus. Im Laufen wirbelte er das Lasso über dem Kopf, die Steinkugeln schwirrten in einem tiefen, drohenden Ton.
Der Verfolgte hatte fast das Baumhaus erreicht, als Hinrich Quast die Bola losließ. Sie zischte wie ein wirbelndes Karrenrad durch die Luft, jagte dem rennenden Mann nach, senkte sich herunter und verfing sich, wie von Zauberhand geführt, in dessen Füßen. Im vollen Lauf klatschte der Mann auf den Kai und schlidderte ein Stück weit über das Pflaster.
Der Wurf war fachgerecht ausgeführt, und doch hatte er sein Ziel verfehlt. Es war nicht der Verfolgte, der da auf der Straße lag, es war der Polizist. Moritz war hinter Hinrich Quast hergerannt – ohne zu überlegen, was er gegen einen erwachsenen Mann ausrichten konnte. Er lief an dem Polizisten vorbei, der ganz zerschunden aussah und sich abmühte, seine Beine von den Seilen zu befreien. Kurz darauf passierte er Hinrich Quast. Der lehnte an einem Pfahl und hustete sich die Seele aus dem Leib.
Der Verfolgte war schnell. Doch er hatte wohl schon eine größere Strecke hinter sich gebracht, denn jetzt stellte sich Erschöpfung ein. Er stolperte über den unebenen Boden und wurde langsamer. Moritz dagegen war jung, flink und ausgeruht. Er holte schnell auf, hatte den Flüchtenden fast erreicht, da stoppteer erschrocken. Er kannte die Gestalt. Es war der Mann, der ihm im Neustädter Gängeviertel aufgelauert und ihn verfolgt hatte. Die Erinnerung an den Schrecken jener Nacht ließ ihn kleinmütig werden. Er überlegte kurz, was zu tun sei, kam zu keinem Entschluss und blieb einfach stehen.
Inzwischen hatte der Mann die Station der Jollenführer am Baumhaus erreicht. Die Bootsleute waren gerade ans andere Ende des Pontons gegangen, um ihre Pfeifen anzuzünden und zu plaudern. Verwundert beobachteten sie den Mann, der die Laufplanke zu den Booten herunterrannte.
»Der hat es ganz schön eilig«, bemerkte einer von ihnen, ohne sich jedoch aus der Ruhe bringen zu lassen.
»Nur nicht hetzen«, sagte ein anderer und stopfte mit seinen schwieligen Fingern den glühenden Tabak nach.
Der Mann hatte es wirklich sehr eilig. Er kümmerte sich nicht um die Bootsleute, sondern sprang in eines der Ruderboote, trennte mit einem schnellen Schnitt das Seil durch und fuhr die Riemen aus.
Jetzt wurden auch die Jollenführer hektisch. »Was macht der da?«, schrie der Vormann. »Der klaut unser Boot! Am helllichten Tag.«
Die Bootsleute sprangen auf und liefen den Ponton entlang. »Alle Mann in die Boote!«, schrie der Vormann. »Dem Dieb hinterher. Ergreift ihn!«
Die Meute der Verfolger hatte inzwischen auch das Baumhaus erreicht.
»Rudert, rudert!«, brüllte Sergeant Heißig, während er hektisch am Kai auf und ab rannte. »Es ist der Elbrandmörder. Er darf nicht
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