Im Schatten des Kreml
schon weg«, sagt Golko.
Ich reiße eine Seite aus Golkos Notizblock, schreibe meine Telefonnummer drauf und gebe sie Olga. »Rufen Sie mich an, wenn Ihre Kollegin sich an den Namen der Firma erinnert, der das Lagerhaus gehört.«
Bei der Wache angekommen, beugt sie sich vor und schüttelt meine Hand. Ihr Griff ist warm und fest, und der Schalk leuchtet ihr in den Augen.
»Wer auch immer Ihnen den Schneidbrenner ins Gesicht gehalten hat, gehen Sie ihm lieber aus dem Weg, Volk.«
Ich versuche, nicht zu lächeln, aber es gelingt mir nicht ganz.
Ein kalter frühmorgendlicher Windstoß weht in den Mercedes, als sie mit dem Vorschlaghammer in der Hand hinten aussteigt. Sie schlägt die Tür zu und geht über den Parkplatz auf das baufällige Gebäude zu. Plötzlich macht sie eine Kehrtwendung und signalisiert mir, das Fenster aufzumachen. Ich drücke auf den Knopf und lasse es herunterfahren. Die dünne Eisschicht fällt klirrend ab.
»Als ich Sie um das Lagerhaus herumgehen sah, Volk, habe ich einen Entschluss gefasst.« Sie lehnt sich mit einem Ellbogen an die Tür und bläst mir eine Kaugummiblase ins Gesicht.
»Was für einen?«
»Sie sind nicht zu dünn.«
Sie verpasst mir einen neckischen Stoß gegen die Schulter, der sich anfühlt wie ein Schlag mit dem Hammer, und bricht in Gelächter aus. Als wir losfahren, kichert sie immer noch. Und ich kann nicht anders, als mitzulachen.
»Freut mich, dass Sie sich amüsieren, Oberst«, bemerkt Golko und muss selbst lachen.
Wir sind wieder auf der M7, als mein Handy sich meldet. Ich gehe dran, und Alla sagt: »Zweiundfünfzig.«
»Lies sie mir vor.«
Sie fängt an. Zwei Namen kenne ich. Ihren und Meis. Eine Fahrt nach Wladimir und ein Anruf bei der Tochter eines amerikanischen Senators – Mei war nicht untätig.
»Hilft dir das weiter?«
»Vielleicht. Danke, Alla.«
Ich lasse meinen Sitz zurückfahren. Schließe die Augen, rufe mir die Spalten ins Gedächtnis, die ich auf die Rückseite von Lacheks Dossier geschrieben habe, und suche nach einer Struktur. Mehrere Stränge sind ineinander verflochten wie kämpfende Schlangen in einem lebenden, mit Reißzähnen versehenen Gordischen Knoten. Wie Alexander werde ich ihn mit dem Schwert durchschlagen müssen, statt zu versuchen, das ganze Chaos zu entwirren.
Der General hat Dubinin auf die Suche nach den kaiserlichen Ostereiern geschickt, ein Auftrag, der ihn zu Khanzad, Melnik, dem Hennen-Ei und – in gewisser Hinsicht – dem Video führte. Dubinin plante einen Tausch und landete auf der Schlachtbank, das Ei und das Video sind verschwunden und haben zwei rätselhafte Spuren hinterlassen. Die Nummer, die mit Dubinins Blut niedergeschrieben wurde, ist ein Hinweis auf die gelöschte Datei über Starye Atagi – und richtet sich gleichzeitig anklagend gegen ihn selbst. Das Ei unter seinem Gesicht steht in Verbindung zu dem obskuren Lagerhaus, von dem wir gerade kommen, warum, weiß ich allerdings nicht.
Ivaschko, Melnik, Dubinin. Ich flüstere die Namen wie eine Litanei, überzeugt, dass alle drei auf dieselbe charakteristische Art, auf Befehl desselben Mannes – Abreg – und aus demselben Grund getötet wurden: ein verabscheuungswürdiges Kriegsverbrechen bei Starye Atagi. Schlimmer noch, ich glaube, es wird weitere Tote geben, weil Abreg jetzt das Video hat und seine Opfer identifizieren kann. Und er wird nicht aufhören, bis er sein Werk vollendet hat.
Nur wenige Stunden nach Dubinins Entführung und Ermordung explodierte das AMERCO-Gebäude. Der junge Lachek, Offizier einer Spezialeinheit der inneren Truppen des FSB, war als Erster in der Kommandozentrale und zwar beinahe, bevor es überhaupt passierte. Ein anderer Offizier, derjenige, der Lachek half, Charlie zu entführen, funkte die Männer im Gebäude an, um sie zu warnen, dass ich käme. Ich kann nicht sagen, ob eine Untergruppe des FSB für den Anschlag verantwortlich ist oder ob eher Privatinteressen dahinterstecken, aber ich vermute, es war kein Zufall, dass Marko Hutsul, der Vorsitzende von Kombi-Oil, unter den Geiseln war, die verschont wurden.
All das hat die Aufmerksamkeit der Amerikaner und offenbar auch der Chinesen auf sich gezogen. Die Tochter des Senators zu retten, mag Teil dessen sein, was Matthews und seine Leute antreibt, aber ich schätze, es geht um wesentlich mehr. Wenn ich an mein Gespräch mit Matthews zurückdenke, wird mir klar, was er mir eigentlich zwischen den Zeilen mitteilen wollte: Putin und Lachek, Öl, Terrorismus und
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