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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
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nackter Rücken gegen den schroffen Granit reiben.
    Ich drücke mich mit Händen und Ellbogen an der Wand hoch wie ein Turner und bringe mein rechtes Bein in Position, sodass mein Fuß den Boden berührt. Minuten vergehen, bis er mein Gewicht wieder tragen und ich das Bein durchstrecken kann. Als ich es tue, reißt es mir die Haut am Rücken auf, aber ich schiebe mich weiter hoch, bis ich halb hocke und der Druck von meinem Stumpf weicht. Alles Gewicht ist auf den Fuß konzentriert und, so wie ich hier klemme, auf mein Knie und den Rücken, die gegen die Seiten des Schachts drücken und sich zu einer Symphonie des Schmerzes vereinen. Ich kann nur hoffen, so lange durchzuhalten, bis ich nichts mehr spüre.
    Ich habe schon mal von oben in so einen Schacht hineingesehen, als ich 2002 nach der Geiselnahme im Dubrowka-Theater einen Gefangenen im höhlenartigen Labyrinth der untersten Ebenen der Lubjanka befragen sollte. Einer der Terroristen überlebte das Gas, was allerdings in den Medien nicht erwähnt wurde, und man hatte ihn in eines dieser Löcher gesteckt, um ihn zu zermürben. Die Dinger sehen aus wie ein Kamin, weniger als einen halben Meter Durchmesser, mit einer massiven Eisenklappe, die kein Licht durchlässt, wenn sie geschlossen ist. Manche sind quadratisch. Dieser Schacht ist rund – eine schroffe Röhre kalten Steins. Mein rechtes Bein steht knöcheltief im eiskalten Schlamm. Der Gestank zwingt mich, durch den Mund zu atmen.
    Das Diprivan dämmt ein wenig die Schmerzen ein, nehme ich an, aber ich bezweifle, dass seine Wirkung noch lange anhält. Noch schlimmer ist die Platzangst. Hinzu kommt eine diffuse Furcht, die tief in meinen Eingeweiden wühlt. Lachek hatte recht, Khanzad wird Valja finden. Sie gehören beide zum Gunoi-teip, und das jeweilige Umfeld, in dem sie sich bewegen, hat unzählige Überschneidungspunkte mit dem des anderen. Er weiß, wo er sie finden kann. Es kann dauern, aber finden wird er sie. Der Mann ist die wandelnde Pest. Er wird Valja finden...
    Ich muss an etwas anderes denken. Sonst ersticke ich.
    Ich lenke meine Gedanken in eine andere Richtung, verblasste Erinnerungen ziehen an mir vorüber. Angefangen bei einem Vater, den ich nie kannte. Ich weiß nicht, ob Lachek gelogen hat, als er von ihm sprach, aber wie er auch gestorben sein mag, ich werde ohnehin nie herausbekommen, ob er es wert gewesen wäre, ein Vater zu sein. Für mich ist er eine bloße Skizze, ein paar kräftige Striche auf weißem Papier, ein minimalistisches Bild, das durch die Abwesenheit von Details entsteht. Als Kind sehnte ich mich nach einem Ideal, nicht nach Fleisch und Blut; irgendwann später wurde diese Lücke von einer anderen Familie gefüllt, an deren Spitze der General stand.
    Vielleicht war das die falsche Familie. Das hat mir einmal eine Rebellin gesagt – eine mutige Frau, die dem Tode geweiht war. Während ich an ihre Worte denke, trägt es mich aus dem eisigen Schacht hinaus in die bittere Kälte eines Gletschers in den Bergen Dagestans.

40
    Ich trottete den Berg hoch über eine breite Gletscherzunge aus Eis und Schnee, die sich über den steilen Berghang hinzog, schlug mich durch zehn Zentimeter frischen Pulverschnee und die bei jedem zweiten Schritt knirschende, hart gefrorene Schicht darunter. Dreitausend Meter hoch, in weißer Tarnausrüstung – selbst das Sturmgewehr über meiner Schulter war weißgrau gefleckt. Ich schob mich durch meinen eigenen, vor mir hertreibenden Atem, der halb gefroren in der Luft hing, und kämpfte mich mit zitternden Knien durch das Schneefeld bis zur Endkante einer zerklüfteten Moräne, wo ein Brocken dunklen Granits im Fünfundvierzig-Grad-Winkel aus dem Schnee ragte wie der abgebrochene Bug eines auftauchenden U-Boots.
    Zwanzig Meter entfernt. Ein ganzes Leben zu weit.
    Ein weißes Gestöber sprühte vor mir auf. Das Trommelgewitter der Maschinengewehrschüsse schien erst Stunden später zu kommen. Ich legte meinen höchsten Gang ein, meine Beine jagten wie wahnsinnig auf und ab, ich wusste, ich musste verschwinden, oder ich war tot, hier und jetzt. Weiße Geysire sprangen überall um mich herum aus dem Boden. Etwas streifte meinen Ärmel und brannte wie ein Bügeleisen, als es ihn durchdrang.
    Fünf Meter bis zur großen Felsnase... drei...
    Ich sprang kopfüber hinter einen Vorsprung und machte mich klein. Meine Beine schmerzten vom Aufstieg. Dann drehte ich mich auf den Bauch und gab ein paar Schüsse ab, nur um meine Angreifer etwas aufzuhalten.

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