Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
Lichtquellen erhellten es, Fackeln ebenso wie elektrische Lampen. Das Licht spiegelte sich an den Fassaden der Gebäude, die, wie Carya beim Näherkommen staunend erkannte, reich mit Silberschmuck verziert waren. Die Metallspitzen der Mauerdorne, die Fensterrahmen, die prunkvollen Dachfirste – sie alle glänzten in kaltem, wie flüssig wirkendem Silber und verliehen dem Schloss einen märchenhaften Glanz.
Sie durchquerten das erste Tor, das von Soldaten in blauen und silbernen Rüstungen flankiert wurde. Die Panzeranzüge erinnerten Carya an Jonans Templerrüstung, auch wenn sie nicht ganz so klobig waren und ihr martialisches Aussehen durch aufwändig gearbeiteten Zierrat gemildert wurde. Carya musste auf einmal an Julion Alecander denken, einen der zehn Paladine des Lux Dei, den Schwarm ihrer frühen Jugendjahre. Wenn es einen Mann in Arcadion gab, der eine so prächtige Rüstung trug, dann er. Mithin mussten diese Torwachen zur Elitegarde des Mondkaisers gehören.
Ihr Wagen überquerte den äußeren Vorhof des Schlosses, der von zwei lang gestreckten, viergeschossigen Häusern mit hohen Fenstern und einem steilen Dach aus dunklen Schindeln eingefasst wurde. Hier lebten vermutlich die Bediensteten und die Soldaten der Kaisergarde. Carya war überrascht, wie viel Leben am Hof noch herrschte. Zahlreiche Kutschen und auch mindestens ein halbes Dutzend Motorwagen parkten auf dem Hof und livrierte Diener liefen von Haus zu Haus.
Gleich darauf näherten sie sich einem zweiten Durchgang, der zu einer niedrigen Mauer gehörte, auf der ein Zaun aus übermannshohen, spielerisch verschnörkelten Metallstangen saß. Der in einem Halbkreis den inneren Hof des Palasts umspannende Zaun musste fast achtzig Meter lang sein, und er war vollständig mit blankem Silber überzogen. Die zahlreichen Fackeln und Lampen, deren Schein sich in ihm spiegelten, sorgten für ein spektakuläres Lichterspiel.
Unwillkürlich fing Caryas Herz an, schneller zu schlagen. Wie wohlhabend und mächtig war dieser Mondkaiser, dass er sich ein dermaßen opulentes Domizil leisten konnte? Ihr war kein einziges Haus in ganz Arcadion bekannt, das so sehr den Reichtum seines Besitzers zur Schau stellte. Einzig der Dom des Lichts in seiner ganzen Gewaltigkeit konnte es an Pracht mit diesem Bauwerk aufnehmen – und bis vor wenigen Minuten hätte Carya es für unmöglich gehalten, dass es irgendetwas auf der Welt gab, das dem Dom des Lichts gleichkam.
»Eindrucksvoll, nicht wahr?«, sagte Cartagena. »Ich hatte einen ähnlichen Glanz in den Augen, als ich das erste Mal an den Hof des Mondkaisers gekommen bin.« Er senkte die Stimme ein wenig und wechselte zu Caryas Überraschung ins Arcadische. »Aber lass dich nicht vom Silberglanz blenden. Dieser Hof ist nicht weniger gefährlich als das Leben in der Trümmerzone. Die Gefahren mögen anderer Natur sein, aber sie sind genauso todbringend.«
Minister Justeneau warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Das habe ich sowohl gehört, als auch verstanden.«
»Oh, dann habt Ihr Euch seit unserem letzten Zusammentreffen weitergebildet?«, fragte Cartagena mit milde verblüffter Miene.
»Bei unseren Geschäften bleibt das nicht aus.«
»In dem Fall war es äußerst leichtsinnig von Euch, mich von diesem Umstand in Kenntnis zu setzen. Also werde ich zukünftig auch in dieser Sprache meine Worte mit noch mehr Bedacht wählen.«
»Vielleicht wollte ich Euch auch eine freundschaftliche Warnung zukommen lassen«, entgegnete Justeneau. »Der Einflussbereich des Lux Dei liegt nicht so weit entfernt, als dass nicht einige bei Hofe in Sprache und Gepflogenheiten kundig wären.«
Cartagena neigte dankbar den Kopf.
Der Wagen fuhr eine Kurve und hielt vor dem linken Seitenflügel des Haupthauses an. Eilig stiegen die Gardisten aus dem Heckbereich aus und nahmen vor dem Fond in einer Reihe Haltung an. Der Hauptmann öffnete die Tür, und Justeneau stieg aus. Cartagena bedeutete Carya mit einer Geste, dem Minister zu folgen, bevor er als Letzter den Wagen verließ.
Auch auf dem inneren Hof waren sie nicht allein. Soeben war eine nachtschwarz lackierte Kutsche vorgefahren, und eine kleine Gesellschaft bewegte sich darauf zu. Der Mann in der Mitte, er musste etwa im Alter von Caryas Vater sein, wurde von zwei jüngeren Begleitern gestützt. Allerdings wirkte er weniger verletzt, als vollkommen am Boden zerstört. Ein tiefgläubiger Priester, der soeben exkommuniziert worden war, konnte nicht verzweifelter dreinschauen. Auch
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