Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
Invalidendom!«
Nachdenklich schürzte Jonan die Lippen. Einen Bruder, den es womöglich gar nicht gab, an einem Ort zu suchen, an dem er vielleicht längst nicht mehr lebte, war ein ziemlicher Schuss ins Blaue. Andererseits stellte dieser unbekannte Mann den einzigen Ansatzpunkt dar, den sie überhaupt besaßen. Ob er etwas für sie tun konnte, stand obendrein in den Sternen. Die Antwort auf diese Frage würden sie allerdings nur herausfinden, wenn sie ihr Glück versuchten.
»Es ist keine besonders aussichtsreiche Spur, aber besser als nichts«, fasste Jonan seine Gedanken in Worte. »Also begeben wir uns zu diesem Invalidendom. Aber das muss bis morgen warten. Mitten in der Nacht stolpere ich nicht durch ein völlig unbekanntes Ödland.«
»Du willst nicht ernsthaft hier unter der Brücke übernachten, oder?«
»Nein. Wir nehmen die Straße in Richtung Stadt und schauen, ob wir an einem Gasthaus am Rand der Lebenszone vorbeikommen, in dem wir schlafen können. Wenn wir keins finden, suchen wir uns eine geeignete Ruine.« Jonan holte den Navigator hervor und rief die Umgebungskarte auf. »Wir nehmen diese Hauptstraße«, erkläre er Pitlit und deutete auf eine orangefarbene Linie, die schnurgerade von einem äußeren zu einem inneren Straßenring um das alte Zentrum von Paris verlief. »Wir gehen allerhöchstens bis zum inneren Ring. Das sind zehn Kilometer. Wenn wir vorher einen geeigneten Schlafplatz entdecken oder die Umgebung deutlich ungemütlicher wird, machen wir halt. Denn eigentlich sind wir heute schon genug gewandert.«
»Ist gut«, sagte Pitlit.
Jonan hängte sich den Beutel um und befestigte die Lampe an seiner Jacke, damit sie nicht in völliger Dunkelheit die Böschung zur Brücke hinauf erklimmen mussten. Oben angekommen schaltete er das Licht aus, und sie verschmolzen mit der Dunkelheit.
Die Nacht war finster, Mond und Sterne verbargen sich hinter dichten Wolken. Nirgendwo schimmerte der goldene oder rötliche Schein eines bewohnten Hauses oder eines Lagerfeuers. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen.
Zum Glück war das auch nicht nötig. Die Straße unter ihren Füßen war zwar rissig, von Unkraut übersät und gelegentlich lagen Trümmerteile darauf herum. Dennoch konnte man auch im Dunkeln gut vorankommen.
Nach einer knappen Stunde erreichten sie das gewaltige Band der mehrspurigen Straße, die laut Jonans Navigator in weiten Schlangenlinien unmittelbar in das graue Ödland des Zentrums von Paris führte. Sie liefen noch eine Weile weiter, und als sich abzeichnete, dass sie keine Herberge für die Nacht finden würden, schlugen sie sich seitlich ins Gebüsch, um in einem aufgegebenen Wohngebiet nach einer Schlafmöglichkeit zu suchen.
Sie fanden sie in einem verfallenen Mehrfamilienhaus. Im Schein von Jonans Lampe drangen sie bis in den zweiten Stock vor, wo sie eine Wohnung entdeckten, in der noch ein paar alte Möbel standen. Auf einer durchgesessenen braunen Sofagarnitur legten sie sich zum Schlafen hin. Einen Augenblick lang erwog Jonan, abwechselnd Wache zu halten. Doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Sie befanden sich mitten im Nirgendwo. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den wenigen Stunden bis zum Morgengrauen von Plünderern entdeckt wurden, war ausgesprochen gering.
»Jonan?«, fragte Pitlit ins Dunkel, nachdem sie sich jeder auf einem Sofa ausgestreckt und das Licht gelöscht hatten.
»Mhm?«, brummte Jonan.
»Glaubst du, sie werden Carya foltern und vor Gericht stellen, so wie in Arcadion?«
Jonan brauchte einen Moment, bevor er darauf antworten konnte. »Ich weiß es nicht, Pitlit. Ich hoffe nicht. Wir sind keine Feinde des Mondkaisers. Das ist sicher ein Vorteil. Genau genommen spielen wir überhaupt keine Rolle für ihn. Wir sind nur dahergelaufene Wanderer von der Straße. Carya wird dem Mondkaiser also wahrscheinlich völlig gleichgültig sein. Möglicherweise erfährt er gar nicht, dass seine Männer sie mit nach Château Lune gebracht haben. Wenn der Hof wirklich deren Ziel war.«
»Aber wenn wir so unwichtig sind, warum hat der Raketenflugzeugkerl die Soldaten dann davon abgehalten, Carya einfach zu erschießen?«, wunderte sich Pitlit. »Wir haben doch anscheinend irgendetwas Verbotenes beobachtet. Uns umzubringen wäre also die einfachste Lösung gewesen.«
Mit gerunzelter Stirn starrte Jonan die Decke über seinem Kopf an, die er im Dunkeln nicht sehen konnte. »Das ist eine wirklich gute Frage«, murmelte er, mehr zu sich selbst, als an den
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