Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
Schlafzimmer zu verlassen.
»Oma. Bleib. Bitte.«
Leandra zögerte einen Augenblick, bevor sie ihre Hand von der Klinke nahm. Ihr Gesicht war aschfahl, als sie auf Naomi zuging. Der Umschlag war von Leandras Mutter. Naomi versuchte zu ergründen, was in ihrer Großmutter vorgehen mochte. Nach all den Jahren zu erfahren, was Romina ihr geschrieben hatte, bevor sie verschwand, musste beängstigend sein. Naomis Finger zitterten. Sie drehte den Umschlag in Händen. Die schwungvollen Buchstaben in englischer Schrift waren kaum noch zu erkennen. Leandra stand immer noch inmitten des Zimmers. Ihre Gestalt wirkte verloren, die für sie sonst so typische Körperspannung war verschwunden. Sie sah alt aus; zerbrechlich.
»Er ist an dich gerichtet. Du solltest ihn öffnen.« Naomi streckte ihr das Kuvert hin.
Leandra ging vorsichtig auf sie zu, gerade so, als hielte Naomi ihr eine giftige Pflanze entgegen. Mit den Fingerspitzen berührte sie das grobe Papier, bevor sie die Hand wieder zurückzog. »Ich kann nicht. Die ganzen Jahre über wollte ich erfahren, was meine Mutter niedergeschrieben hat. Und jetzt habe ich fürchterliche Angst, die Wahrheit zu lesen. Was, wenn sie mich tatsächlich einfach im Stich gelassen hat?« Leandra setzte sich auf die Bettkante, die Hände zwischen ihre Knie gepresst.
»Glaubst du das wirklich? Freiwillig hat sie dich nicht zurückgelassen. Sie hatte mit Sicherheit ihre Gründe. Sonst hätte sie dich geküsst, damit du sie vergisst und dir nicht eine Nachricht hinterlassen.« Naomi rückte dichter an ihre Großmutter heran. »Komm. Lass uns gemeinsam nachsehen.« Ihr selbst schnürte sich der Magen zusammen. Sie wusste nichts über Romina. Zumindest nichts über ihr eigentliches Leben. Leandra hatte immer behauptet, Romina sei gestorben, als Leandra selbst noch ein kleines Mädchen gewesen war, und sie wisse kaum etwas über sie. Erst als Naomis Abreise bevorstand, hatte Leandra erklärt, Romina habe sich bei Vollmond in einen Panther verwandelt und sei plötzlich spurlos verschwunden. Sie sei damals nicht gestorben. Alles sei eine große Lüge gewesen, um unnötige Fragen zu verhindern. Naomi erinnerte sich genau, wie sie über diese Verwandlungsgeschichte gelacht und ihr kein Wort geglaubt hatte. Sogar an Leandras Verstand hatte sie gezweifelt. Doch jetzt tauchte ihre Großmutter mit diesem geheimnisvollen Umschlag auf. Mit Rominas Nachlass.
Naomi nickte. »Los geht´s.« Sie steckte ihren Fingernagel in eine Ecke, die nicht komplett verschlossen schien, und riss daran. Nichts. Das Papier war stabiler, als es aussah. Sie sah sich in ihrem Zimmer um. Das Nageletui lag auf dem Tischchen vor ihrem Schminkspiegel. Mit einem Schritt war sie dort, fingerte nach der Nagelfeile und schob diese in die Öffnung. Drei kräftige Bewegungen genügten, um den Umschlag aufzuschlitzen. Sie seufzte, bevor sie sich wieder neben Leandra setzte. Naomi starrte auf den Briefbogen, den sie vorsichtig herauszog und Leandra übergab.
Leandras Hände zitterten. Sie faltete den Papierbogen auf und räusperte sich.
Mein geliebtes Kind, ich hoffe, du wirst nie diese Zeilen lesen. Es fällt mir unglaublich schwer, sie niederzuschreiben. Du kennst mein Geheimnis, und ich spüre in meinem Herzen, dass du es bis zum heutigen Tage bewahrt hast .
Leandras Stimme brach. Für einen Moment legte sie ihren Kopf in den Nacken und blickte zur Zimmerdecke.
Naomi legte ihr die Hand auf das Knie. »Oma, du hast dein Versprechen nicht gebrochen. Du selbst hast gesagt, Romina hätte gewollt, dass ich es erfahre. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Was hättest du denn tun sollen?«
Leandra atmete schwer ein und aus. Dann las sie weiter.
Du weißt, ich wäre bei euch geblieben, wenn es mir irgend möglich gewesen wäre. Doch das war es nicht. Ich habe euch in Gefahr gebracht und musste euch schützen. Ich wurde getäuscht und verraten. Freund und Feind vermischten sich, um zu täuschen und zu vernichten. Sei immer auf der Hut. Traue nur dir selbst und wäge stets ab, bevor du jemandem etwas von dir preisgibst. Auch wenn es mir verboten ist, muss ich dir zumindest auf deinem schweren Weg die notwendige Hilfe zuteilwerden lassen. Du kannst ihn unmöglich alleine gehen.
Weißt du noch, was ich dir früher über den Kuss gesagt habe? Man küsst nicht nur aus Liebe. Erinnerst du dich, wie ich diesen Kuss genannt habe? Weißt du noch das genaue Wort? Du hast geschworen, es nie zu vergessen. Dieses Wort wird dich zu mir
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