Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
Vergessens zu geben. Es war tatsächlich genau so vorgefallen. Es war Dorothea und ihrer Familie zugestoßen. Wäre Dorotheas Schwester nicht im Nachbardorf gewesen, würde sie, Naomi, heute gar nicht existieren.
Leandra schwieg immer noch. Naomi ließ sie in Ruhe und nahm den Brief nochmals in die Hand. Nachdem sie ihn erneut gelesen hatte, erschien ihr die Geschichte genauso unglaubwürdig, als beim ersten Mal. Trotzdem wusste sie, dass es die Wahrheit sein musste. »Kai wusste davon. Nicht, wie es genau abgelaufen war, aber er wusste, dass durch die Unvorsichtigkeit einer Frau ein gesamter Clan ausgelöscht wurde.« Sie kratzte sich am Kopf und schob sich eine Haarsträhne zurück. »Zumindest beinahe ...«
»Ja, beinahe«, wiederholte ihre Großmutter. »Das war der letzte Brief, oder?« Sie drehte sich zu ihr um.
Naomi nickte. »Ja. Und was sollen wir nun unternehmen?« Sie rieb sich die Schläfen.
Leandra zuckte hilflos mit den Schultern. »Warten?«
»Warten? Auf Romina? Bis zum nächsten Vollmond sind es noch ganze vier Wochen! Wir können doch nicht einfach hier herumsitzen und nichts tun.« Naomi ging zum Fenster. Der Himmel war wolkenverhangen und es sah nach Regen aus. Dunkle Wolken türmten sich auf.
»Haben wir eine Wahl? Wir wissen nicht, wo sich meine Mutter aufhält, also bleibt uns nichts anderes übrig.« Leandra stand auf und griff nach den Schriftstücken. »Und das verbrennen wir besser.« Sie lief ins Badezimmer und ließ die Seiten ins Waschbecken gleiten.
»Kein Wunder waren die Anwälte hinter den Briefen her.« Naomi folgte ihr. »Wir könnten auch beim nächsten Vollmond wieder hier sein und in der Zwischenzeit versuchen herauszufinden, wo dein Bruder Iker wohnt. »Ein kleiner Hinweis von Romina wäre nützlich gewesen.«
»Darum hat meine Mutter keine weiteren Informationen hinterlegt. Diese hier sind schon gefährlich genug. Nicht auszudenken, wenn sie noch eine Adresse notiert hätte und die Unterlagen in falsche Hände geraten wären.« Leandra ging zurück ins Schlafzimmer und öffnete die Schubladen der Nachttische. »Haben wir überhaupt ein Feuerzeug?«
Naomi schüttelte den Kopf. Es widerstrebte ihr, die Briefe zu vernichten. Was, wenn sie etwas überlesen hatten? Romina würde kommen. Sollte ihnen etwas entgangen sein, könnte Romina alles Weitere erklären. Das war immerhin etwas. Aber vier Wochen warten? Dazu hatte sie überhaupt keine Lust. Die Nachrichten waren über vierzig Jahre alt. In dieser Zeit konnte viel geschehen sein.
Mit einem Seufzen nahm Naomi die Schriftstücke aus dem Waschbecken und setzte sich wieder auf das Bett. »Wenn wir sie nicht verbrennen können, dann müssen wir sie zerreißen. Danach spülen wir sie im Klo runter.«
Seite für Seite zerriss sie Briefe in kleine Schnipsel, während Leandra die Papierfetzen zur Toilettenschüssel trug und die Spülung betätigte. Trotzdem wollte Naomi anschließend keinesfalls untätig hier herumsitzen. So viel stand für sie fest.
Ein Klopfen an der Tür ließ Naomi zusammenfahren.
»Das ist mit Sicherheit Miss Marple.« Sie schlug die Decke zurück, damit die letzten Papierfetzen verdeckt waren, und ging zur Tür. »Ja?«, fragte sie, bevor sie ihre Hand auf die Klinke legte.
Im letzten Moment kam ihr der Gedanke, dass vielleicht dieser alte Anwalt sie irgendwie hatte ausfindig machen können. Das Dorf war klein, und wenn man lange genug herumfragte, könnte man mit Sicherheit herausfinden, wo sie untergekommen waren.
»Ich bin`s, Mrs. Jackson.«
Naomi verzog das Gesicht. Als ob sie es nicht geahnt hätte. Sie drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür.
Miss Marple streckte ihr einen Umschlag entgegen. »Der wurde für Sie abgegeben.«
»Danke.« Sie drehte ihn in Händen, aber es stand kein Absender darauf.
»Übrigens. Ich wollte Ihnen noch mitteilen, dass heute schon zwei Herren nach Ihnen gefragt haben. Einer war so um die siebzig und der andere dürfte in den Vierzigern gewesen sein.« Mit zusammengekniffenen Augen warf sie einen neugierigen Blick ins Zimmer.
Naomi spürte, wie sich ein Kribbeln in ihrer Magengegend ausbreitete. Selbst, wenn ihre Großmutter in dieser Gegend noch jemanden kennen würde, so wusste keiner, dass sie sich im Moment hier aufhielten. Bisher hatten sie noch mit keiner Menschenseele gesprochen. Sie hatten noch nicht einmal Leandras Elternhaus besucht. »Und? Was wollten sie?«
Miss Marple legte die Stirn in Falten und sah sie empört an. »Wir verhalten uns
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