Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
Doch egal, wo ich auch suche, ich finde nichts in den Aufzeichnungen der Stadtarchive. Diese Unwissenheit lässt mir keine Ruhe, denn jeder stammt schließlich von jemandem ab. Es erscheint mir, als seien alle meine Vorfahren vom Erdboden verschluckt. Könnte das bedeuten, dass alle getötet wurden? Früher waren die Familien viel größer, und ich hege immer noch die Hoffnung, entfernte Verwandte zu finden. Es muss einfach weitere Familienmitglieder geben.
Vor einigen Monaten fand ich endlich etwas heraus. Eine Großtante könnte in Texas leben. Vor einem halben Jahr schrieb ich ihr einen Brief und fragte, ob jemand aus ihrer Familie früher in Europa gelebt haben könnte. Viel war ihrer Antwort nicht zu entnehmen. Ihre Großeltern seien bei einem Unglück ums Leben gekommen, und wo deren Eltern herkämen, wisse sie nicht genau. Klar sei nur, dass ihre Wurzeln in England lägen. Aber sie schrieb auch, ich hätte ihre Neugierde auf die eigene Vergangenheit geweckt und sie würde nun Nachforschungen anstellen. Mit Sicherheit wäre es auch für ihre Kinder von Interesse. Sie seien zwar bereits erwachsen und hätten bisher nicht danach gefragt, aber sie hätte nun viel freie Zeit nach dem Tod ihres Mannes und so ein Stammbaum wäre ein tolles Geschenk. Sie schloss den Brief, sie würde sich wieder bei mir melden.
Manchmal weiß ich nicht, ob nicht meine Fantasie mit mir durchgeht, wenn ich solche Briefe lese. Leute sterben nun mal, doch stimmt es mich nachdenklich, immer wieder von Unglücksfällen in einer Familie zu lesen, vor allem, wenn es eventuell weitentfernte Verwandte von mir sein könnten. Hoffentlich schreibt sie mir wieder. Über ihre beiden Kinder hat sie nichts erzählt, leider. Ob sie oder eines der Kinder zu unserem Clan gehören? Ich weiß es nicht.
Klar ist, dass ich es durch einen Briefwechsel nicht herausfinden werde. Eine Reise dorthin wäre eine Möglichkeit. Irgendwann gehe ich dieser Sache auf den Grund. Sollte jemand dieser Familie tatsächlich zu unserem Clan gehören, so befinden sie sich in Gefahr und verdienen eine Warnung.
Beim vorletzten Vollmond traf ich auf ein unbekanntes Clanmitglied. Etwas an ihr kam mir seltsam vertraut vor, wenn ich auch nicht in der Lage war zu sagen, aus welchem Grund. Auch der Name Dolores sagte mir nichts. Dieses neue Clanmitglied ließ mich nicht aus den Augen. Ihrem Aussehen nach verfügte sie über einen großen Erfahrungsschatz. Teile ihres Fells wiesen Narben auf, die auf harte Kämpfe hindeuteten.
In der zweiten Vollmondnacht fragte ich Dolores, ob wir uns schon einmal begegnet seien. Eine direkte Antwort wollte sie mir nicht geben. Nicht hier, nicht vor den anderen. Sie wollte mich alleine treffen. Meine Neugierde war geweckt, aber mit den Jahren wuchs auch mein Misstrauen. Ein heimliches Treffen konnte gefährlich sein. Trotzdem stimmte ich zu. Allerdings nahm ich Iker mit zum Treffpunkt, während sich George und Alonso in unmittelbarer Umgebung aufhielten, um auf uns zu achten. Es war ein gewagtes Spiel, doch vertraute ich auf meine Familie und hoffte, Iker könne durch seine Gabe herausfinden, welche Absichten Dolores verfolgte.
Wir trafen uns am darauf folgenden Nachmittag auf der La Rambla in Barcelona. Die Fußgängerzone ist zu dieser Tageszeit mit Menschen überfüllt. Iker wusste, was ich von ihm erwartete. Er sollte mir ihre Gedanken verraten. Am südlichen Ende der Straße sah sich jemand suchend um, und Iker zuckte zusammen, während wir uns näherten. Zaghaft schüttelte er den Kopf. Er musste ihre Gedanken aufgefangen haben. Als ich ihn fragte, was er vernommen hätte, erklärte er mir, ich hätte nichts zu befürchten. Dolores glaube, sie gehöre zur Familie, auch wenn er nicht wisse, wieso sie auf diese Idee käme, da er sie schließlich noch nie gesehen habe. Mein Verstand konnte seine Worte kaum verarbeiten. Jahrelang suchte ich vergeblich nach Familienmitgliedern, und nun sollte mich eines gefunden haben? Iker lächelte mich an und nickte.
Nachdem Iker zu Alonso geeilt war, ging ich auf Dolores zu. Mein Magen krampfte sich zusammen. Dolores` Gesicht war mit einem Tuch verhüllt, und als ich näher kam, war mir klar, warum sie trotz der Sommerhitze dieses Tuch trug. Eine Gesichtshälfte war vernarbt. Wären diese Narben nicht gewesen, wäre sie eine bildhübsche junge Frau gewesen. Nachdem wir uns schweigend in die Augen gesehen hatten, suchten wir uns am Meer einen ruhigen Platz, um zu reden. Dort erzählte sie mir ihre
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