Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
Aber, er wird dich zum Arzt schleppen.«
Naomi lächelte. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich mich schleppen lasse? Ich werde mir seinen Wagen leihen, nach Bangor fahren und so tun, als sei ich beim Arzt. Der konnte nur leider nicht das Geringste finden. Ein einmaliger Anfall. Fertig.« Naomi trank ihren Kaffee leer, stellte die Tasse neben den Laptop und stand auf. »Ich bin so weit. Du kannst mich nun heimfahren.«
Kai stellte den Wagen direkt vor dem Hauseingang ab. Bis auf drei Studenten, die Naomi nicht kannte, war niemand zu sehen. Trotzdem wartete sie, bis auch die kleine Truppe verschwunden war. Sie wollte neugierige Blicke vermeiden, die sie unweigerlich auf sich gezogen hätte, wäre sie barfuß aus dem Auto gestiegen. Trotz Sonnenschein waren die Temperaturen immer noch zu kalt, um ohne Schuhe auf die Straße zu gehen. Tagsüber wärmte die Sonne zwar, und man konnte ohne Jacke unterwegs sein, aber es war noch lange kein T-Shirt-Wetter.
Bevor sie die Tür öffnete, atmete sie tief durch. Sie ängstigte sich vor dem, was nun folgte. »Zeit zu gehen. Danke für alles.« Sie stieg aus, beugte sich zu Kai in den Wagen und nickte. »Ich melde mich bei dir, sobald ich mit Roman gesprochen habe.« Sie hielt den Zettel mit seiner Telefonnummer in der Hand. »Dann möchte ich aber auch deine Geschichte erfahren.«
Kai schwieg.
Naomi schloss die Tür und verharrte einen Moment. Nun musste sie bei der Hausverwaltung den Schlüssel für ihr Studio besorgen. Ihr eigener war samt den Schminkutensilien in ihrer Handtasche, und die lag irgendwo im Wald. Sie straffte die Schultern. Das Klingeln der Türglocke klang aufdringlich laut. Naomi verzog das Gesicht. Das Fenster im Erdgeschoss öffnete sich. Die Hausverwalterin streckte den Kopf heraus. »Ach, du bist es. Das wurde aber auch Zeit. Seit zwei Tagen klingelt es ununterbrochen an deiner Tür. Hast du keinen Schlüssel?«
Naomi schüttelte den Kopf. »Den habe ich irgendwo verloren. Wer wollte denn zu mir?« Der Türöffner summte. Naomi drückte gegen die Haustür. Für einen Moment stand sie verlegen im Treppenhaus. Die Wohnungstür ging auf. »Ich war über das Wochenende bei einer Bekannten.«
Die Hausverwalterin zog die Augenbrauen hoch, als ihr Blick auf ihre nackten Füße fiel. Sie sagte nichts. Vermutlich hatte sie in diesem Wohnheim schon merkwürdigere Dinge gesehen. Sie hielt ihr den Schlüssel hin. »Da du die Schlüssel verloren hast, müssen wir spätestens morgen das Schloss austauschen. Ich kümmere mich darum. Die Rechnung schiebe ich dir unter der Tür durch.«
»Danke.« Naomi nahm den Schlüssel entgegen. Auf dem Weg nach oben nahm sie zwei Stufen auf einmal. Sie schlüpfte in ihr Studio, schloss leise die Tür und ging in die Küche. Sie war durstig. Ihr Zeh stieß gegen eine Scherbe. Die Kaffeetasse. Sie lag immer noch zerbrochen auf den Fliesen. Die Rose welkte in der leeren Wasserflasche vor sich hin. Naomi ging zu ihrem Bett, kroch darauf und brach in Tränen aus. Alles hätte so schön werden können. Warum hatte es ausgerechnet an jenem Abend geschehen müssen?
Trotz ihrer rotgeweinten Augen entdeckte sie Papiere, die offenbar unter der Tür durchgeschoben worden waren. Beim Öffnen der Tür musste der Luftzug die Zettel gegen die Wand geweht haben. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen fort. Sie stand auf, holte sich die Papiere und las.
Eine Nachricht war von Alice. Ruf mich an, es ist dringend! Wo zum Henker steckst du nur?
Zwei weitere waren von Roman. Auf einem Zettel stand: Warum bist du ohne ein Wort verschwunden? Ruf mich bitte an. Auf dem anderen: Ich mache mir Sorgen um dich! Melde dich, sobald du kannst, ja? Dein Handy liegt im Apartment und keiner weiß, wo du steckst. Ich liebe dich, Roman. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals. Ich liebe dich auch, dachte sie. Trotzdem muss ich dich belügen.
Naomi kontrollierte ihr Handy. Es zeigte neun Anrufe in Abwesenheit an. Vier Anrufe von Roman; der letzte am Abend ihres Verschwindens. Nachdem sie nicht ans Telefon gegangen war, musste Roman vom Hotel aus zu ihr gefahren sein. Beim letzten Anruf stand er vermutlich direkt vor ihrer Tür. So hatte er durch das Klingeln gehört, dass ihr Telefon im Zimmer lag. Zwei Anrufe waren von Alice. Einer von Karsten. Zwei von ihrer Großmutter. Die Nachrichten ähnelten sich. Alle wollten wissen, wo sie steckte, warum sie nicht zurückrief, und erklärten, dass sie sich Sorgen machten. Leandra hatte angedroht,
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