Im Schatten des Schloessli
Blutgierigen. Denn siehe, HERR , sie lauern mir auf», entgegnete Johannes, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen.
«Sie haben das Recht, Aussagen und Mitwirkung zu verweigern. Ihre Aussagen können als Beweismittel verwendet werden. Haben Sie dies verstanden?»
«Wer Ohren hat, zu hören, der höre! Ich habe es bereits viermal gesagt, aber ich wiederhole es gern ein fünftes Mal: Ich bin ein Knecht des Herrn und kein Idiot! Ja, ich habe verstanden.»
«Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Freundchen. Ich habe die Strafprozessordnung nicht gemacht. Wenn es nach mir ginge, würde ich Ihnen den ganzen Sermon gar nicht erst vorlesen, sondern Sie so lange bei Wasser und Brot einsperren, bis Sie an Ihrem frömmlerischen Getue erstickt sind.»
Unold hob beschwichtigend den Arm.
«Was?», fragte Geigy und stand von seinem Stuhl auf. «Das ist ja nicht zum Aushalten. Ich hol mir was Anständiges zu trinken. Lesen Sie unterdessen die Rechtsbelehrung zu Ende vor.» Damit stürmte er aus dem Vernehmungsraum.
«Das war ganz bestimmt nicht regelkonform», begrüsste Unold seinen Chef, als der nach wenigen Minuten mit seiner Thermosflasche in der Hand zurückkehrte.
«Braucht ja niemand zu erfahren. Mich interessiert viel eher, was Herr Kägi zu den Briefen zu sagen hat.» Geigy beugte sich vor, bis sein Mund beinahe Johannes’ Nase berührte. «Sparen Sie sich und uns viel Zeit und geben Sie zu, das Zeug verfasst zu haben, oder müssen wir Ihnen erst des Langen und Breiten darlegen, warum kein anderer als Sie Urheber dieses Geschmiers sein kann?»
«Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Ich bin gespannt auf Ihre Überlegungen.»
Einige Sekunden lang blieb Geigy unbeweglich sitzen und blies Johannes seinen Atem ins Gesicht. Dann richtete er sich wieder auf und zuckte resigniert mit den Schultern. «Unold, Sie sind gefordert.»
Patrick Unold liess sich nicht lange bitten. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, die Blätter aus dem blauen Kunststoffmäppchen zu ziehen, das vor ihm auf dem Tisch lag. «Wenn Sie diese Wasserflasche anfassen, lassen Sie darauf Fingerabdrücke zurück, die für Sie – und nur für Sie – charakteristisch sind», begann er seine Ausführungen. «Ganz ähnlich hinterlassen Sie beim Verfassen eines Textes sprachliche Fingerabdrücke. Anders gesagt: Jeder Mensch hat einen für ihn typischen Sprachgebrauch. Der Vergleich der Briefe, die Sie Ihrer Schwester aus ‹Königsfelden› geschrieben haben, mit den Drohbriefen, die Chris Morton und Stephan Rothpletz erhalten haben, hat so viele übereinstimmende individuelle Sprachmerkmale erbracht, dass es gar nicht anders sein kann, als dass sie von ein und derselben Person verfasst worden sind: nämlich von Ihnen.»
«Sie sitzen nicht im Gerichtssaal, müssen also keine lückenlose, gerichtsverwertbare Analyse wiederkäuen», unterbrach Geigy Unolds Vortrag. «Kommen Sie zum Kern, sonst schwitzen wir noch morgen in diesem pinkfarbenen Inferno.»
«Ein Mindestmass an Erklärungen muss schon sein.»
«Zwischen einem Mindestmass und einem ausufernden Roman gibt es verdammt noch mal ein Mittelding.»
«Siehe, wie gut und wie lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen.»
* * *
«Ich frage mich, ob Johannes wirklich so durchgeknallt ist, wie es den Anschein macht. Seine Kommentare jedenfalls –»
«Messerscharf, ich weiss.» Geigy umklammerte die Thermosflasche mit beiden Händen und tat einen tiefen Schluck. «Unterschätzen dürfen wir ihn keinesfalls. Wenn Norbergs Leute den Schmutz unter seinen Fingernägeln gesichert haben, fahren wir mit der Vernehmung fort. Und liegen die Untersuchungsergebnisse erst vor, wissen wir mehr. So richtig könnte ich es zwar auch dann nicht glauben, dass der Kratzer an Mortons Hals von Johannes stammt.»
«Sagten nicht Sie erst vor wenigen Tagen, für Glaubensfragen sei die Polizei die falsche Adresse?» Unold stand von seinem Stuhl auf, ging zum Drucker, nahm den Stapel Papiere heraus, die das Gerät während der letzten Minuten ausgespuckt hatte, und setzte sich wieder Geigy gegenüber an dessen Schreibtisch.
«Geben Sie schon her», wechselte Geigy das Thema.
«Von wem ist das überhaupt? ZSAS ? Gehören die zu uns?»
«Wenn’s um die Auswertung von Schusswaffenspuren geht, schon.»
«Am meisten liebe ich an diesem Job, dass man nicht nur den Verdächtigen die Würmer aus der Nase ziehen muss, sondern auch den
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