Im Schatten des Teebaums - Roman
dem Koffer, Noah«, sagte Mary tadelnd.
Noah sprang eilig herbei und wuchtete Elizas Koffer auf seinen Karren. Er wartete, bis sie hinaufgeklettert war; dann ergriff er die Zügel. Der Esel protestierte laut ob der schweren Last, die er zu ziehen hatte, setzte sich aber in Bewegung, als Noah energisch am Zaumzeug ruckte.
Minutenlang sprach keiner ein Wort. Noah war sichtlich befangen. Eliza vermutete, dass er von den Weißen wegen seiner Abstammung und seiner Hautfarbe gehänselt oder gar verächtlich behandelt wurde. Sie kannte dieses Verhalten, das ihr zutiefst verhasst war, von den weißen Einwohnern in Mount Gambier und war ziemlich sicher, dass es in Tantanoola nicht anders war. Sie fasste sich ein Herz und fragte:
»W ohnen Sie schon lange in Tantanoola, Mr. Rigby?«
»Ungefähr zwanzig Jahre, Miss Dickens«, antwortete er. »Aber ich habe mein ganzes Leben in der Gegend hier verbracht. Hier nennen mich übrigens alle nur Noah. Kein Mensch sagt Mr. Rigby zu mir.«
»Gut, dann müssen Sie aber auch Eliza zu mir sagen.«
»W ie Sie wünschen, Miss«, erwiderte er. Doch der Gedanke behagte ihm nicht, Eliza konnte es ihm ansehen.
Sie musste unwillkürlich lächeln. »So schwer ist das doch nicht, oder?«, neckte sie ihn.
»Nein, Miss.« Jetzt musste auch Noah lächeln. »Ich meine, Eliza.« Es freute Noah, dass die junge Frau ihn so respektvoll behandelte, wie sonst nur Tilly Sheehan es tat.
»W as sind Sie von Beruf, Noah?«
»Ich bin Maler.«
»Ja, ich dachte mir gleich, dass die Flecken auf Ihrem Hemd Farbe sind.«
»Mrs. Corcoran hat mir keine Zeit gelassen, mich umzuziehen«, meinte Noah entschuldigend.
»Das macht doch nichts. Aber kann man denn davon leben? Gibt es in Tantanoola genug Häuser, die gestrichen werden müssen?«
»Ich bin Kunstmaler, Miss, kein Anstreicher.« Noah war es gewohnt, dass die Leute ihm nur handwerkliche Fähigkeiten zutrauten. »Ich male hauptsächlich Landschaften.« Er liebte seine Arbeit nicht zuletzt deshalb, weil sie es ihm ermöglichte, allein zu sein. Er war gern für sich.
Eliza machte große Augen. »W as Sie nicht sagen! Ich würde auch gern malen können. Sind Sie ein guter Maler?«
Noah blickte sie überrascht an.
»Ich frage nur, weil ich Reporterin bin … aber keine besonders gute, fürchte ich. Jedenfalls noch nicht. Ich hoffe, das wird sich nach dieser Tigergeschichte ändern.«
Noah unterdrückte ein Schmunzeln, sagte aber nichts. Eine Zeitlang schwiegen sie beide, während der Karren über die staubige Straße am Fuß der Up and Down Rocks rollte. Dann fragte Eliza neugierig:
»W elchem Stamm gehören Sie eigentlich an?« Noah sah eher wie ein Halbblut aus.
»Den Bunganditji. Früher war es der größte der fünf Clans, die auf dem Ngarringjeri-Land lebten. Heute gibt es nicht mehr viele von ihnen.«
»W ie kommt das?«
»Sie sterben aus«, erwiderte Noah traurig. »Außerdem hat die Lebensweise der Aborigines sich sehr verändert, weil sie nicht mehr umherziehen können wie früher.«
»W egen der Farmer, die sich hier angesiedelt haben?«
»Ja«, antwortete Noah knapp. Er wollte nicht näher darauf eingehen, wie schlecht die Aborigines behandelt wurden, wenn sie ihr Lager auf dem Land eines Farmers aufschlugen. »Ich bin der letzte Aborigine in Tantanoola. Mit mir werden sie dort aussterben.«
Eliza stimmte der Gedanke traurig. Um sich und Noah abzulenken, sagte sie: »W enn Sie Ihr ganzes Leben hier verbracht haben, haben Sie den Tiger doch bestimmt einmal gesehen, oder?«
Noah senkte den Kopf. Den Blick auf die staubige Erde gerichtet, erwiderte er: »Nein, Miss.« Es fiel ihm offensichtlich schwer, sie Eliza zu nennen.
Eliza war enttäuscht. Eine Beschreibung des wilden Tieres von einem Augenzeugen hätte wunderbar in ihren Artikel gepasst. Nach einer Pause fragte sie: »V erkaufen Sie Ihre Bilder an Durchreisende?«
»Nur selten, Eliza. Mein Hauptabnehmer ist Mr. Ward in Mount Gambier.«
»W irklich? Ich kenne John Ward. Er stellt die Bilder sicher in seiner Galerie aus.«
Noah nickte. »So ist es.«
»Die Galerie läuft meines Wissens ziemlich gut. Ich hoffe, er zahlt Ihnen einen anständigen Preis für Ihre Arbeiten.«
Noah zuckte mit den Achseln. Er hatte nicht das Gefühl, dass er gerecht bezahlt wurde, doch er war froh, einen Abnehmer für seine Bilder zu haben; deshalb beschwerte er sich nicht.
»Kennen Sie die Frau, die im Hanging Rocks Inn wohnt?«, fragte Eliza unvermittelt.
»Ja. Das ist Miss Sheehan. Sie ist sehr
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