Im Schatten des Teebaums - Roman
»W enn ich etwas zu sagen habe, dann sage ich es auch.«
Das hörte Eliza gern. »W underbar. Was sagen Sie dazu, dass in jüngster Zeit ein Tiger hier in der Gegend beobachtet wurde?«, fragte sie und kramte in ihrer Tasche nach dem Notizbuch.
»Ich gebe keine Interviews, Miss Dickens, ich bin hier, um einen Auftrag zu erledigen, und dieser Auftrag lautet, eine mörderische Bestie zur Strecke zu bringen. Genau das werde ich tun, und ich werde meine Arbeit so sorgfältig wie nur möglich erledigen.«
»Das … das ist aber eine sehr kaltblütige Einstellung«, stammelte Eliza, erstaunt über Brodie Chandlers Gefühllosigkeit.
»Bis jetzt hat der Tiger fast fünfzig Schafe gerissen. Das bedeutet einen schweren finanziellen Verlust für die betroffenen Farmer. Noch ist kein Mensch angegriffen oder getötet worden, aber man sollte es gar nicht erst so weit kommen lassen, finden Sie nicht auch?«
»W aren die Knochen oder die Überreste der Schafe weit verstreut, als man sie fand?«, fragte Eliza, die ihrem Chef jetzt dankbar war, dass er sie dazu angehalten hatte, sich über die Lebensweise von Tigern zu informieren. »W enn nicht, könnte es nämlich ein anderes Tier gewesen sein, das die Schafe getötet hat.«
Brodie konnte seine Ungeduld angesichts so naiver Fragen kaum verbergen. »In den meisten Fällen wurden kaum Überreste gefunden. Aber ich habe einen der Kadaver gesehen – er war buchstäblich zerfetzt. So etwas bringen nicht viele Tiere fertig. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden …« Abermals versuchte er, sich an ihr vorbeizudrängen.
Doch so leicht ließ Eliza sich nicht abschütteln. »Können Sie mit den Beschreibungen, die man Ihnen gegeben hat, etwas anfangen?«
»Nicht viel. Es war früh am Morgen und neblig, als der Tiger gesehen wurde, deshalb sind die Beschreibungen ungenau. Aber ich habe an einem Baumstamm Kratzspuren gefunden, die von einer Raubkatze stammen.«
»T atsächlich? Könnten Sie mir die zeigen?«, fragte Eliza aufgeregt.
»Nein, Miss Dickens«, antwortete Brodie knapp. »Ich habe gerade gesagt, dass ich keine Interviews gebe, also lassen Sie mich jetzt bitte in Frieden, damit ich meine Arbeit tun kann.« Er schob sich an ihr vorbei.
»W arum kann man den Tiger nicht lebend fangen und ihn in einen Zirkus oder einen Zoo bringen?« Das wäre ihrer Meinung nach sehr viel menschlicher. Und es gäbe eine viel bessere Story.
Brodie unterdrückte einen gereizten Seufzer. »Es ist schon schwer genug, ihm aufzulauern und ihn mit einem gut gezielten Schuss zu erlegen. Ihn lebend zu fangen ist praktisch unmöglich.«
»Ihn abzuknallen wird auch nicht leichter sein«, erwiderte Eliza. »Dazu müssten Sie ihn erst einmal sehen, und allen Berichten zufolge ist er nur alle paar Jahre beobachtet worden.«
»Ich bekomme ihn schon vor die Flinte, keine Sorge. Guten Tag, Miss Dickens.«
»Ich habe gelesen, dass Tiger sehr scheue Tiere sind, die einen weiten Bogen um Menschen machen. Es könnte also gut sein, dass Sie ihn nicht zu Gesicht bekommen.«
»Mir ist noch nie eine Beute durch die Lappen gegangen, Miss Dickens. Hoffen wir, dass Sie mit Ihrem Artikel auch so viel Glück haben.« Damit kehrte Brodie ihr den Rücken zu und betrat das Hotel.
Eliza blickte ihm nach und ging dann zu Nell. »Ich kriege meine Geschichte schon«, sagte sie leise. »Und weder ein Alistair McBride noch ein Brodie Chandler werden mich daran hindern.« Als sie das Pferd losgebunden hatte, suchte sie nach etwas, das sie als Hilfe zum Aufsitzen benutzen konnte, fand aber nichts. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf und führte Nell am Zügel die Straße hinunter, darauf vertrauend, dass sich irgendwann schon eine Möglichkeit finden würde.
Nach ein paar hundert Metern entdeckte sie auf der Straße zum Hanging Rocks Inn einen umgestürzten Baum am Wegesrand. Sie führte Nell dorthin.
»Du hältst jetzt schön brav still, bis ich im Sattel sitze, verstanden?«, ermahnte sie die Stute. Nell senkte den Kopf und rupfte zufrieden das schmackhafte Gras am Weg. Eliza kletterte auf den Baumstamm und schob einen Fuß in den Steigbügel. Als sie sich am Sattelknauf hinaufziehen wollte, trat plötzlich eine Frau mit zwei kleinen Kindern aus einer schmalen Zufahrt auf der anderen Seite der baumbestandenen Straße.
»Das ist aber ein großes Pferd für eine so kleine Frau«, bemerkte die Frau mit schriller Stimme. Nell riss überrascht den Kopf hoch und tänzelte nervös hin und her. Elizas Fuß rutschte aus dem
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