Im Schatten des Teebaums - Roman
benutzt, schien aber in gutem Zustand zu sein.
Tilly senkte den Kopf. Sie hatte panische Angst vor dem Wagen, insbesondere vor den Rädern. Aber wie sollte sie Brodie das erklären? »Ich … ich benutze den Wagen nie«, sagte sie leise.
»Ich fahre ihn für Sie, wenn Sie möchten«, bot Brodie an. Er fand Tillys Verhalten sehr seltsam. Irgendetwas machte ihr Angst, und Brodie rätselte, was es sein mochte. Dann fielen ihm die Narben in ihrem Gesicht ein, die er am Tag zuvor bemerkt hatte. Hing es vielleicht damit zusammen?
Tilly schaute auf. Brodies Angebot war verlockend; es wäre viel angenehmer, in die Stadt zu fahren, als zu gehen. Sie dachte an Eliza, der es ebenfalls vor dem langen Fußmarsch graute. »W ürden Sie das wirklich tun?«, fragte sie leise. Sie hatte sich erst nach langer Zeit auf Noahs Eselskarren getraut. Zwei Jahre lang war sie neben dem Karren hergegangen, bis Noah sie an einem glühend heißen Tag, als sie in der sengenden Hitze beinahe ohnmächtig geworden wäre, überredet hatte, endlich ihre Angst zu überwinden und auf den Wagen zu steigen. Tilly würde Noah ewig dankbar sein für seine Geduld und sein Verständnis. Doch der Pferdewagen war kein Eselskarren – seine Räder waren so groß wie die einer Kutsche.
»Aber ja, mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Brodie. »Ich werde zuerst Nell anschirren und dann alles aufladen.« Bevor Tilly etwas einwenden konnte, hatte er sich umgedreht und war zur Sattelkammer gegangen. Tilly bekam feuchte Hände bei dem Gedanken an die bevorstehende Fahrt, sagte sich dann aber, dass die Angst lange genug über ihr Leben bestimmt hatte. Es wurde Zeit, dagegen anzukämpfen. Außerdem würden ja Eliza und Brodie bei ihr sein.
Nachdem Brodie das Pferd vor den Wagen gespannt und alles eingeladen hatte, ging er noch einmal ins Haus, um seinen Hut zu holen. »W issen Sie, woher Ihre Tante die Narben im Gesicht hat?«, fragte er Eliza, die gerade in ihre Strickjacke schlüpfte und dann nach ihrem Hut griff.
Eliza war immer noch böse auf Brodie, weil er sie am Abend zuvor allein im Dunkeln zurückgelassen hatte. Er war nur wenige Minuten fort gewesen, doch ihr war es wie Stunden vorgekommen. Bei jedem Geräusch war sie zusammengezuckt. Ohne Brodie anzusehen, antwortete sie nun: »Nein, ehrlich gesagt nicht. Sie soll vor Jahren einen schweren Unfall gehabt haben, aber ich weiß keine Einzelheiten. Warum fragen Sie?«
»Ich habe den Eindruck, sie hat Angst vor dem Pferdewagen«, sagte Brodie.
»T atsächlich?« Eliza hatte sich schon gewundert, wieso der Wagen offenbar nie benutzt wurde.
»Ja. Ich habe schon vermutet, dass sie einen Unfall mit einem Pferdefuhrwerk gehabt haben könnte.«
Eliza schüttelte den Kopf. »Ich habe wirklich keine Ahnung. In meiner Familie wurde nie darüber gesprochen«, gestand sie, »und ich kenne Tilly ja erst seit kurzem.« Sie hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, von ihrer Mutter mehr über deren Schwester erfahren zu wollen.
»Und Sie haben sie noch nicht danach gefragt?«
Der leise Spott in seiner Stimme entging Eliza nicht. Brodie konnte es anscheinend nicht fassen, dass eine neugierige Reporterin wie sie der Sache noch nicht auf den Grund gegangen war. »Nein. Meine Tante hat gesagt, ich darf nur bleiben, wenn ich keine Fragen stelle.«
Brodie musste schmunzeln, als er das hörte, und Eliza machte ein saures Gesicht.
»W ieso fragen Sie sie nicht selbst?«, sagte sie spitz.
»Für mich als Fremden schickt es sich nicht, ihr eine so persönliche Frage zu stellen. Es hat mich nur interessiert, weil ich Matilda nicht durch eine unachtsame Bemerkung oder Handlung verletzen möchte.« Brodie war aufgefallen, wie zurückhaltend, ja schüchtern Matilda war. Sie fühlte sich unbehaglich in Gegenwart anderer Menschen. Er wusste von Mary Corcoran, dass die Gesellschaft ihrer Tiere ihr lieber war als die von Menschen. Brodie glaubte den Grund dafür zu kennen: Tilly musste in der Vergangenheit von irgendjemandem tief enttäuscht worden sein und hatte sich daraufhin zurückgezogen.
»Sie ist gehemmt wegen ihrer Narben«, sagte Eliza. »Ich finde das sehr schade, weil sie einmal eine wunderschöne Frau gewesen sein muss.«
Brodie sah erstaunt auf. »Das ist sie auch heute noch. Aber ich kann ihre Hemmungen verstehen.« Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Sind Sie so weit? Ich glaube, Matilda wartet schon. Ich habe ihr angeboten, den Wagen zu fahren.«
Eliza nickte. »Ja, von mir aus können wir gehen.«
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