Im Schatten des Teebaums - Roman
Schließlich war auch Katie ihre Nichte. »Sie können gern bei mir wohnen, wenn Sie wollen«, sagte Tilly, insgeheim erleichtert, dass ihr Name der jungen Frau offenbar nichts sagte. Allem Anschein nach war Katie nicht so aufgeweckt und scharfsinnig wie ihre ältere Schwester.
»W irklich? Das ist sehr nett von Ihnen. Ich nehme Ihr Angebot gerne an, vielen Dank.« Katie strahlte. Ihr Lächeln wurde ein wenig unsicher, als sie die Narben auf Tillys Wange bemerkte.
Tilly wandte sich an Eliza. »Fahr ruhig schon mit Katie nach Hause. Ihr habt sicher viel zu bereden. Ich komme schon allein zurecht.«
»Das ist nett von dir …« Tante , wäre Eliza um ein Haar herausgerutscht. »Aber wir bleiben hier, bis du fertig bist. Komm«, sagte sie zu ihrer Schwester, »w ir bringen deine Tasche schon mal zum Wagen.«
»Ihr duzt euch?«, flüsterte Katie, als sie außer Hörweite waren.
»Ja, wir … verstehen uns blendend«, erwiderte Eliza verlegen.
Tilly schaute den beiden Mädchen nachdenklich hinterher. Sie unterschieden sich voneinander, wie sie und Henrietta sich voneinander unterschieden. Katie erinnerte sie stark an Henrietta, als diese in ihrem Alter gewesen war. Damals hatte alles sich immer nur um Henrietta gedreht. Sie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie an andere Menschen kaum einen Gedanken verschwendet hatte. Ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse waren für sie das Wichtigste auf der Welt gewesen, und sie hatte ihren Willen ohne Rücksicht auf andere durchgesetzt. Tilly fragte sich, ob ihre Schwester sich geändert hatte. Nein, wahrscheinlich nicht, gab sie sich selbst die Antwort.
10
»W eshalb hast du dich denn mit Thomas gestritten?«, fragte Eliza, als sie Katies Tasche auf den Wagen stellte.
»Ach, es war ein dummer Streit«, gestand Katie. »W ir waren bei seinen Eltern zum Tee eingeladen, und seine Mutter hat mir stundenlang ihre Familienerbstücke gezeigt.«
Eliza blickte sie verwundert an. »Und deswegen habt ihr euch gestritten?«
»Ich weiß, dass es sich dumm anhört, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass Thomas ’ Mutter bereits mein ganzes Leben verplant hat. Sie sieht in mir schon die künftige Schwiegertochter.«
»Das ist doch verständlich. Sie hat dich gern, und du bist jetzt seit fast einem Jahr mit Thomas zusammen.«
»Ich weiß«, erwiderte Katie gequält, »aber sie hat praktisch schon alles entschieden … wie viele Kinder wir haben sollen und wie sie heißen sollen. Ich habe plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Thomas begreift nicht, worum es mir geht. Stell dir vor – er hat mir gesagt, dass er mir einen Antrag machen will!«
Eliza verstand überhaupt nichts mehr. »Aber das hast du dir doch immer gewünscht, Katie!«
»Ja, schon. Aber wenn man weiß, dass man einen Heiratsantrag bekommen wird – sozusagen mit Vorankündigung –, ist das nicht mehr sehr romantisch.«
Eliza verdrehte die Augen. »Und deshalb bist du einfach von zu Hause weggelaufen? Ich fasse es nicht! Mom und Dad werden krank sein vor Sorge. So was sieht dir gar nicht ähnlich, Katie.«
»V ielleicht bin ich es leid, dass alle im Voraus zu glauben wissen, wie ich mich verhalte – ob es um meine Hochzeit geht oder sonst etwas«, erwiderte Katie und zog einen Flunsch. »Ich bin es satt, dass andere mein Leben verplanen. Außerdem kann Mom sich denken, wo ich bin. Ich habe ihr gestern Abend gesagt, dass ich zu dir fahren möchte.«
»Und was hat sie dazu gemeint?«
»Sie hat es mir verboten, was sonst?« Katie seufzte. »Ich hatte ja damit gerechnet, dass sie nicht gerade begeistert sein würde, aber sie hat fast hysterisch reagiert.«
Eliza wunderte das kein bisschen. Und es wunderte sie auch nicht, dass Katie den wahren Grund für die offenbar heftige Reaktion ihrer Mutter nicht erraten hatte.
»Ich weiß auch nicht, was mit Mom los ist«, fuhr Katie fort. »Immer ist sie gereizt. Man kann kein vernünftiges Wort mit ihr reden. Und sie sieht schlecht aus, weil sie kaum noch schläft. Ich höre sie nachts oft aufstehen und durchs Haus gehen. Und immerzu sagt sie mir, was Thomas doch für ein gut aussehender Mann und begehrter Junggeselle sei. Deshalb dürfe ich ihn auf keinen Fall gehen lassen. Aber das ist doch kein Grund zum Heiraten! Es gibt noch mehr attraktive Männer auf der Welt.«
Eliza ahnte, dass Katie dabei an Alistair McBride dachte. »Da hast du allerdings recht«, pflichtete sie Katie bei. Vor ihrem geistigen Auge
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