Im Schatten des Vaters
Kartenspielen und Roy den Abwasch machte, probierte sein Vater noch einmal das Funkgerät aus. Diesmal kam er durch.
Was denkst du dir dabei, Jim?, fragte Rhoda. Du bist jetzt seit Monaten weg von allen, und du meinst, du hast dich verändert, aber was passiert, wenn du wieder in derselben Situation bist, mit denselben Leuten?
Roy wurde es peinlich. Am Funkgerät gab es keine Privatsphäre. Er trocknete sich die Hände ab, zog seine Stiefel an, und sein Vater spielte auf Zeit, sagte, Ich, äh, bis Roy den Raum verließ.
Und dann war Roy zum ersten Mal seit vier Tagen vor der Hütte, sank bis über die Stiefel im Schnee ein und hielt aufs Ufer zu. Direkt am Wasser gab es kein Eis und keinen Schnee. Dort draußen war es nicht kalt genug, vermutete Roy, oder aber das Salz ließ alles schmelzen. Er las Steine aus dem Schnee auf und warf sie auf dünne Eisschollen weiter oben im Bach, ließ sie wie Autoscheiben zersplittern und krachen. Er wusste nicht, wie lange er hier draußen herumlungern sollte, wahrscheinlich aber eine ganze Weile. Er ging an der Bachmündung vorbei zur unteren Spitze, blieb dicht an der Kante, weg vom tiefen Schnee, und fragte sich, ob es jetzt Fische gab in der Bucht. Er nahm es an, denn sie konnten sonst nirgendwo hin, aber er hatte keine Ahnung, wie sie überlebten. Er fragte sich, was sein Vater und er hier machten im Winter. Das war doch ganz schön dämlich.
Als sein Vater seine Mutter gefragt hatte, ob Roy hierher mitkommen dürfe, hatte seine Mutter weder geantwortet noch Roy ans Telefon geholt. Sie hatte aufgelegt, ihm das Anliegen seines Vaters übermittelt und ihn ein paar Tage später beim Abendessen gefragt, was er davon halte. Roy erinnerte sich, wie sie damals ausgesehen hatte, das Haar zurück,die Schürze noch umgebunden. Es hatte sich angefühlt wie eine Zeremonie, ungewöhnlich feierlich. Selbst seine kleine Schwester Tracy hatte geschwiegen und beide beobachtet. Der Teil der Geschichte war ein Genuss, selbst jetzt noch. Er hatte das Gefühl gehabt, seine Zukunft zu entscheiden, auch wenn er wusste, dass sie ein Nein hören wollte, und auch wusste, dass er Nein sagen würde.
Und die Antwort gab er ihr an dem Abend.
Warum?, fragte sie.
Ich will nicht weg von hier und von meinen Freunden.
Sie löffelte weiter ihre Suppe. Sie nickte leicht, aber das war alles.
Was meinst du denn?, hatte Roy gefragt.
Ich meine, dass du mir die Antwort gibst, von der du glaubst, dass ich sie hören will. Ich möchte, dass du noch mal darüber nachdenkst, und wenn die Antwort wieder Nein ist, ist das in Ordnung, und natürlich weißt du, dass ich dich hier haben will und dass Tracy und ich dich vermissen würden, wenn du weggehst. Ich will aber, dass du die für dich beste Entscheidung triffst, und ich glaube nicht, dass du genügend darüber nachgedacht hast. Welche Entscheidung du auch fällst, es soll die beste sein, die du jetzt fällen kannst, egal, was später passiert.
Sie sah ihn nicht an, als sie das sagte. Sie sprach, als wüsste sie um spätere Ereignisse, als könnte sie in die Zukunft schauen, und die Zukunft, die Roy in dem Moment sah, war sein Vater, der sich umbrachte, allein in Fairbanks, nachdem Roy ihn im Stich gelassen hatte.
Geh nicht, sagte Tracy. Ich will nicht, dass du gehst. Und dann lief sie in ihr Zimmer und weinte, bis ihre Mutter zu ihr ging.
Roy dachte in den folgenden Tagen darüber nach. Er sahsich, wie er seinem Vater half, wie er ihn zum Lächeln brachte, wie sie beide wandern gingen und fischen und im strahlenden Sonnenschein über Gletscher marschierten. Schon jetzt vermisste er seine Mutter und seine Schwester und seine Freunde, spürte aber, dass es irgendwie unausweichlich war, dass er eigentlich überhaupt keine Wahl hatte.
Als seine Mutter ihn einige Abende später wiederum beim Essen fragte, sagte er Ja, er wolle mitgehen.
Seine Mutter antwortete nicht. Sie legte ihre Gabel hin und atmete mehrmals tief durch. Er sah, dass ihre Hand zitterte. Seine Schwester lief erneut in ihr Zimmer, und seine Mutter musste hinterher. Irgendwie war es, so sein Gefühl damals, als wäre jemand gestorben. Wenn er damals gewusst hätte, was er heute wusste, wäre er gewiss nicht mitgekommen. Aber dafür gab er seiner Mutter die Schuld, nicht seinem Vater. Sie hatte das eingefädelt. Er hatte ursprünglich Nein gesagt.
Die Wolken waren hoch und dünn, und der Mond war von riesigen weißen Kreisen umgeben. Die Luft war weiß und wirkte selbst draußen über dem Kanal
Weitere Kostenlose Bücher