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Im Schatten des Vaters

Im Schatten des Vaters

Titel: Im Schatten des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sodass er kein Fitzelchen sehen konnte.
    Als er zu sprechen begann, stellte er sich vor, er wäre in einem Saal, in einer Verhandlung, und diese Worte würden an ihn gerichtet. Er saß an einem schweren Pult, hörte zu und bekam kein Wort heraus.
    Wie war er verschnürt?, fragte jemand. Warum haben Sie Ihren Sohn bei Tisch angebunden? Hatte das überhaupt irgendeinen Sinn? Und der Schlafsack? War das auch Ihre Idee? Haben Sie das von langer Hand geplant? War dies der eigentliche Zweck Ihrer Reise? Es könnte Selbstmord gewesen sein, natürlich, aber es könnte auch Mord gewesen sein.
    Dieser Gedanke brachte ihn ins Stocken. Er stand schwer atmend im Wald, hörte sonst nichts und dachte, dass sie das denken könnten. Wie sollte er jemals beweisen, dass er seinen Sohn nicht erschossen hatte? Und jetzt war er auch noch weggelaufen und bei jemandem eingebrochen und versteckte sich mit der Leiche. Wie sollte er das bloß alles erklären?
    Jim hatte jetzt Angst um sich selbst und kehrte zur Hütte um, wusste aber nicht recht, in welche Richtung. Er lief wohl über eine Stunde und auf jeden Fall viel weiter als auf dem Hinweg, und noch immer konnte er keine Hütte oder irgendwas Vertrautes oder überhaupt irgendetwas sehen. Er war einfach in die Dunkelheit spaziert, ohne sich darum zu scheren, wo er hinlief.
    Auf dem unebenen Boden stolperte er ab und an durch Haufen von totem Holz und Gestrüpp und wurde von allenSeiten und von oben zerkratzt. Er hatte die Arme ausgestreckt und den Kopf abgewandt und lief seitwärts und hoffte, irgendwie den Weg zu finden, lauschte, hörte aber nur sich selbst und bekam allmählich große Angst vor dem Wald, als hätten sich hier all seine Verfehlungen versammelt und wollten sich nun an ihm rächen. Das war natürlich Unsinn, aber das zu wissen, erschreckte ihn noch mehr, weil es sich trotzdem so echt anfühlte. Er schien unsagbar klein und kurz davor, in die Knie gezwungen zu werden.
    Er hielt immer wieder an und versuchte, stillzustehen und ruhig zu sein und zu lauschen. Er versuchte zu hören, welche Richtung er einschlagen musste, oder aber, weil das Unsinn war, zu hören, was hinter ihm her war. Sehr viel später, als der Himmel etwas aufklarte, sah er durch die Baumwipfel einige dumpfe Sterne. Er fror und zitterte und hatte noch immer Herzrasen, und die Angst war tiefer gesickert, hatte sich zu dem Gefühl verdichtet, dem Untergang geweiht zu sein, nie mehr Zuflucht zu finden oder schnell genug weglaufen zu können. Der Wald war unsagbar laut, lauter als sein pochender Puls. Äste knackten, alle Zweige und Blätter raschelten im Wind, überall huschte es durchs Unterholz, und weiter entfernt waren noch mehr Geräusche, die er sich aber vielleicht auch nur einbildete. Die Luft im Wald war dicht und schwer und Teil der Dunkelheit, als wäre sie mit ihr identisch, und sie bedrängte ihn von allen Seiten.
    So fürchte ich mich schon mein ganzes Leben, sagte er. Das bin ich. Dann aber verbot er sich selbst den Mund. So ein Zeug denkst du nur, weil du verloren bist hier draußen, sagte er.
    Es war unfassbar, dass er so lange zur Hütte zurück brauchte. Noch nie in seinem Leben hatte er sich im Wald verlaufen, und er war ständig in Wäldern, zum Jagen und Fischen. Einfalscher Schritt allerdings, sagte er sich, denn er wusste, dass man danach vielleicht nie wieder zurückfand, weil man nicht wusste, woher man kam, und keinen festen Ausgangspunkt mehr hatte. Das traf auch allgemeiner auf sein Leben zu, vor allem in Bezug auf Frauen. Die Beziehungen hatten sich so früh in seinem Leben verheddert, dass sich unmöglich sagen ließ, was gut war, und seit Roys Tod gab es überhaupt keine Orientierung mehr. Es spielte keine Rolle, ob er heute Nacht im Wald verendete, ob er einfach aufgab, sich hinlegte und erfror.
    Er ging dennoch weiter, bis es heller wurde, und in der Morgendämmerung hatte er den Strand erreicht, indem er stetig bergab gelaufen war. Es war nicht der Strand vor der Hütte, und er wusste nicht, in welche Richtung er sich wenden sollte, aber es war ein Strand, und er schlug den Weg ein, der ihm richtig erschien, folgte ihm und wartete auf die Hütte.
    Es war ein sonniger Tag, kalt und hell, der erste klare Tag seit langem. Er war sehr hungrig und müde und zerschunden, aber dankbar für die Sonne. Als er die Hütte auch nach mehreren Stunden nicht fand, drehte er um und schlug die entgegengesetzte Richtung ein, aber selbst das war in Ordnung. Etwa um die Mittagszeit, als die

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