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Im Schatten des Vaters

Im Schatten des Vaters

Titel: Im Schatten des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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langgestreckte Insel, und es ließ sich nicht voraussagen, ob irgendwo jemand wohnte. Vielleicht gab es nur seine Hütte.
    Die späte Sonne verharrte noch rot am Himmel, als die Felsen unter seinen Füßen kaum mehr zu erkennen waren. Der grüne Himmel über dem Rot verblasste und wurde blau. Jim ging weiter, bis es nicht mehr sicher war, bis er mit dem Gesicht beinahe gegen einen Aststumpf stieß, den er überhaupt nicht gesehen hatte. Dann blieb er stehen. Er ging in den Wald, wickelte sich in seine Decke und schnitt zum Abendessen ein Paket Lachs auf. Er war würzig und gut, anders zubereitet als bloß mit Salz und braunem Zucker. Kauend betrachtete er das bleiche Licht auf dem Wasser und lauschte dem Wald, der stiller schien als sonst, keinen Laut von sich gab als ein leichtes Wehen und gelegentliches Rasten, ohne jede erkennbare Regung eines Lebewesens.
    Roy hatte nicht herkommen wollen. Jim begriff das jetzt. Roy war hergekommen, um ihn zu retten; er war hergekommen, weil er Angst hatte, dass sein Vater sich umbringen würde. Roy hatte sich nicht für diesen Ort interessiert oder die Einsiedelei. Jim hatte sich eingebildet, jeder Junge würde mit seinem Vater in Alaska siedeln wollen – wobei sie ja genau genommen gar nicht siedelten, weil er das Land mitsamt der Hütte gekauft hatte –, aber eigentlich hatte er dabei keine Sekunde an Roy gedacht und dessen Wünsche. Nicht einmal nach ihrer Ankunft. Sein Sohn war einfach da gewesen, und jetzt war sein Sohn weg. Das war das Komische.
    Wenn Roy noch am Leben wäre und Jim ihn irgendwohin mitnehmen könnte, würde er mit ihm um die Welt segeln. Das hätte Roy sich eigentlich gewünscht. Das hatte er selbst gesagt. Und das hätte Jim ebenso mühelos arrangieren können wie diese Einsiedelei. Er hatte genug Geld für ein Boot, er konnte segeln, er hatte Zeit. Dafür allerdings hätte er Roy zuhören müssen. Er hätte ihn wahrnehmen müssen, als er noch lebte. Und genau das war wohl nicht passiert. Jim hatte an Rhoda gedacht und an andere Frauen.
    Jim versuchte zu schlafen, legte sich mit seiner Decke ins Moos und drückte den Proviant gegen seinen Bauch. Egal, ob ein Bär kam, sein Essen würde er nicht hergeben.
    Aber er konnte nicht schlafen. Er suchte nach Sternen, suchte immer weiter, obwohl keine da waren, hielt die Augen offen, obwohl es kein Licht gab und nichts zu sehen. Er malte sich aus, wie es gewesen wäre, durch den Südpazifik zu segeln. Er hatte Bilder gesehen von Bora-Bora. Dunkelgrüner Dschungel und schwarzer Stein, hellblaues Wasser und weißer Sand. Es wäre immer warm gewesen und entspannt, und sie wären Schnorcheln gegangen. Vielleicht hätten sie sogar Tauchen gelernt. Wozu überhaupt Lebenszeit an einem kalten Ort zubringen? Das wollte ihm nicht in den Kopf.
    Jim war nicht müde, konnte sich nicht vorstellen zu schlafen, stand also wieder auf, packte seine Decke in den Sack mit den Lebensmitteln und ging vorsichtig zurück an den Strand.
    Die Nacht war dunkel, ohne Sterne und Mond. Er konnte nichts sehen, obwohl seine Augen stundenlang Zeit gehabt hatten, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er setzte einen Fuß vor den anderen, tastend, bevor er sein Gewicht verlagerte. So ging er langsam, Schritt für Schritt, die Küste entlang, bis er zu nah ans Wasser trat, auf Seetang ausrutschte und hart auf nassen Fels aufschlug. Er stand schnell wiederauf und fiel erneut hin, stöhnte vor Schmerz in Ellbogen und Hüfte, fand seinen Proviantsack und kroch auf Händen und Knien zu trockenen Steinen, bis er sicher stehen konnte. Er ging weiter in den Wald, sein verletztes Bein zitterte, er legte sich unter die Decke und ruhte sich aus und merkte am Morgen, dass er geschlafen hatte.
    An diesem zweiten Tag kam er gut voran, obwohl er von den Stürzen angeschlagen war. Sein Ellbogen schmerzte, als wäre der Knochen verletzt, und sein Bein wirkte schlecht eingehängt, aber das störte ihn nicht besonders. Er hielt nach Booten und Hütten Ausschau, zuversichtlich, jemanden zu finden. Aber dann fragte er sich, ob er sich womöglich auf der Insel Prince of Wales befand, der großen. Sie lag nicht so weit von ihrer entfernt, sah aus wie alles hier und war fast entlegener als Sukkwan, einfach durch ihre Größe. Weite Küstenstrecken waren unbewohnt, und vermutlich gab es auf der großen Insel auch mehr Bären. Er würde erst herausfinden, ob es sich um eine kleinere Insel handelte, wenn er sie umrundet hatte, aber noch ging die Sonne zu seiner Linken

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