Im Schatten des Verrats (Hazel-Roman) (German Edition)
Gassen verirrt. Aber wenn wir einfach in den großen Straßen bleiben, wird uns das nicht passieren."
Das leuchtete Hazel ein. Noch bevor sie die Gürtelschnalle richtig geschlossen hatte, war Jeremy außer Sichtweite und kurz darauf stiefelte auch Hazel – mit weiten Jungenschritten und schlenkernden Armen – auf und davon.
Sie wollte an die Themse gehen. Es schien ihr absurd, dass sie bereits etliche Stunden in dieser Stadt zugebracht hatte, ohne den Fluss überhaupt gesehen zu haben. Außerdem spielte sie mit dem Gedanken, am Hafen zu den Anlandungsstellen zu schlendern, an denen die Schiffe lagen, die rüber zum Kontinent fuhren, und sich mal nach den Preisen für die Überfahrt zu erkundigen. Das war natürlich einigermaßen riskant.
Auf dem Weg dorthin kam sie auf einem großen Platz vorbei, auf dem heute Markt war.
Zu ihrem Erstaunen gab es schon die ersten Möhren und Radieschen, klein, zart und unbezahlbar. Von einem anderen Stand lachten ihr rote Erdbeeren entgegen. Hazel lief das Wasser im Mund zusammen. Es schien ihr absurd, dass sie sich dieselben Früchte, die sie zu Hause völlig umsonst von den Stauden pflücken konnte, hier in London tatsächlich nicht leisten konnte, so teuer waren sie.
Vielleicht war es für ihren knurrenden Magen besser, hier zu verschwinden.
In diesem Moment hielt eine vornehme Kutsche in der Nähe, es ertönte ein Pfiff, ein Straßenjunge ergatterte den Auftrag, Erdbeeren zu holen, nahm das Geld zum Bezahlen entgegen, rannte zu dem Obststand, kaufte die verlangte Ware, quetschte sich mit seiner Beute zurück zu der Kutsche und reichte sie hinauf.
So viel hatte Hazel auf ihrem Gang durch die Straßen schon mitbekommen: dass es verschiedene Dienste gab, für welche die Straßenjungen, von denen stets eine Menge herumlungerten, zur Verfügung standen. Sie erledigten Botendienste, hielten die Zügel einzelner Pferde oder passten auf ganze Fuhrwerke auf, trugen Lasten oder holten einem Droschken herbei. Für ihre Dienste war es üblich, sie je nach Anlass mit einem kleinen Obolus von einem halben oder einem Viertelpenny zu belohnen.
Dabei starrten die Kinder vor Schmutz, sie hatten keine Schuhe, ihre Kleidung war zerschlissen, löchrig, fleckig, oft in der falschen Größe. Und da sie gestern auch zu nächtlichen Zeiten, zu denen behütete Kinder längst im Bett lagen, immer noch auf den Straßen herumgesprungen waren, schien es Hazel fraglich, ob sie überhaupt Eltern hatten.
Hazel fand, es gereichte diesem Jungen zur Ehre, dass er nicht einfach mit dem Geld abgehauen und in der Menge verschwunden war. Er gab sogar das Wechselgeld ab und reichte das Körbchen mit Erdbeeren hinterher. Da er noch sehr klein war, musste er sich ziemlich strecken. Dabei vermochte er das Spankörbchen nicht mehr gerade zu halten, der obersten Erdbeeren gerieten ins Rollen, der Rand hielt sie nicht mehr, zwei, drei Früchte fielen herab, rollten über die Hafenstraße und landeten im Dreck. Der Mann fluchte. Gleich sprang der Junge den Erdbeeren nach, sammelte sie auf und reichte sie dem Herrn, der ihm – nicht faul – eine ordentliche Kopfnuss verpasste, welcher der Junge trotz einer raschen Reaktion nicht mehr gänzlich auszuweichen vermochte. Der Junge biss die Zähne zusammen. Als er jedoch gewahrte, dass der Mann die Zügel nahm und losfahren wollte, geriet der Bub in einige Aufregung. "Mein Penny!", jammerte er, den Tränen nahe. Der Mann schimpfte und wollte ihn fortscheuchen, doch als der Junge weiterhin verzweifelt versuchte seinen gerechten Lohn einzufordern, wehrte er ihn unwirsch ab und griff, weil der kleine Kerl sich hartnäckig an der Kutschwand festklammerte, schließlich zornig zu seiner Pferdepeitsche und holte aus, um den Jungen zu verjagen. Der Junge sprang entsetzt zurück, schrie auf und riss sein Ärmchen hoch, die Peitsche knallte, der Junge zuckte zusammen. War er getroffen? Schon holte der Mann zum zweiten Schlag aus.
"Was fällt Ihnen ein!", empörte Hazel sich, sprang von hinten beherzt hinzu, packte die Schnur der Peitsche, schlang sie sich mit einer raschen Bewegung mehrmals ums Handgelenk und riss sie dem Mann mit einem Ruck aus der Hand. Er fuhr herum: ein zorniger Blick aus sehr dunklen Augen traf sie. Ihr Herz setzte einen Schlag aus: Oh verdammt – er war der attraktivste Mann, den sie jemals im Leben getroffen hatte. Sie befreite hastig ihren Arm aus dem Riemen und warf die Peitsche auf seinen Kutschbock. "Hören Sie auf, dieses Kind zu schlagen!", sagte
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