Im Schatten des Verrats (Hazel-Roman) (German Edition)
vorbei.
"He, du!", rief einer. Hazel zuckte zusammen. "Siehst aus, als ob du lesen könntest." Der Mann drückte ihr einen der Handzettel in die Hand - und ging weiter.
Hazel brauchte drei Querstraßen weit, bis sie sich einigermaßen wieder beruhigt hatte.
Immerhin kam sie einigermaßen pünktlich am vereinbarten Ort an. Jeremy bemerkte von ihrer kleinen Verspätung nur deshalb nichts, weil er selbst noch später kam. Er sprudelte aufgeregt hervor, was er alles gesehen und erlebt hatte, eine Hundewette, eine Baustelle mit Hebekran, eine ... Hazel stoppte seinen Redefluss, indem sie ihm wortlos den Handzettel unter die Nase hielt.
Auch Mrs. Hawthorne war nicht wenig beunruhigt, als ihre Kinder ihr das Blatt überbrachten.
Ein Weiteres stellte sich für die Hawthornes ebenfalls als großes Problem heraus: denn abgeschnitten von ihrem Gut und enteignet hatten sie keine finanziellen Mittel außer den Dingen, die sie mitgenommen hatten. Die erste Rechnung des Gemüsehändlers hinterließ bei ihnen einen nachdrücklichen Eindruck von den Londoner Preisen und Lebenshaltungskosten, so dass ihnen nach diesem Besuch allen klar war, dass sie sich zu äußerster Sparsamkeit verpflichten mussten.
Aber es gab ja keine Nachbarn, die ihre Karte abgaben oder Höflichkeitsbesuche machten, keine anderen Familien, mit denen man gesellschaftlich verkehren musste, der Milchmann verbreitete die Neuigkeit, es sei eine arme Witwe mit ihren Kindern eingezogen, Brot und Gemüse wurde an den Hintereingang angeliefert, und weil man gelegentlich ein junges Dienstmädchen, einen Hausknecht oder eine Zugehfrau in mittleren Jahren durch ebendiesen Dienstboteneingang das Haus verlassen oder betreten sah, dachte man sich, dass die Witwe ihre eigenen Dienstboten mitgebracht hatte, und ließ die Familie, von der man annahm, dass sie sich noch in Trauer befände, weil sie ja keine Gesellschaften gab oder Besuche empfing, in Ruhe.
Natürlich wussten die Hawthornes, dass dies eine gewagte Übergangslösung war. Die London Gazette war täglich voll von Berichten über den versuchten Sturz des Königs, über Lord Everett, den man als hauptsächlichen Übeltäter verfolgt und inhaftiert hatte, über Lord Hamilton Grahams Selbstmord, den man - weil er begangen worden war, um sich der Verhaftung zu entziehen - als Eingeständnis seiner Schuld wertete. Es fanden sich sogar Schilderungen, wie knapp König Georg II. angeblich der Entführung durch die Übeltäter entkommen sei, und dergleichen Wahrheiten und Unwahrheiten mehr, die im Nachfeld eines Aufsehen erregenden Ereignisses stets in Zeitungen zu finden sind.
Für Mrs. Hawthorne, die, ebenso wie ihr Gatte, in früheren Jahren regelmäßig die Hauptstadt besucht hatte, bestand eine vage Wahrscheinlichkeit, dass ihr auf kurz oder lang jemand Bekanntes über den Weg laufen könnte. So wagte Mrs. Hawthorne, das blondierte Haar zu einer schlichten Knotenfrisur gekämmt, sich meist nur früh morgens in Dienstbotenkleidung hinaus, um am Brunnen Trinkwasser zu holen und bei einem der fliegenden Händler die Morgenzeitung zu kaufen.
Hazel hingegen genoss diese neue Freiheit, die sich ihr in der Anonymität der Großstadt bot, sehr. Sie empfand es jedes Mal als neues Abenteuer, als Hausmädchen gekleidet mit einem Korb im Arm unterwegs zu sein und sich einzureihen in die Zahl der namenlosen Dienstmädchen, die irgendwelche Botengänge für ihre Herrschaft zu verrichten hatten. Leider konnte man in dieser Rolle schlecht herumbummeln, man musste immer einen zügigen Schritt drauf haben, schon allein deshalb, weil man sonst von irgendwelchen Männern angesprochen wurde.
Nach einer weiteren Woche hatte sich in der Berichterstattung der Zeitungen die erste Aufregung gelegt, so dass die Hawthornes hoffen konnten, dass sich in naher Zukunft entweder eine Möglichkeit bieten würde, unerkannt das Land zu verlassen, oder dass die Untersuchungen der ganzen Affäre sich so weit klärten, dass die Wahrheit ans Licht käme und für die Hawthornes nicht länger ein Grund bestünde, unter fremdem Namen zu leben.
Immerhin bereiteten sie sich auf die Möglichkeit vor, falls jemand tatsächlich ignorieren würde, dass der Türklopfer abgenommen war, und im Haus in der Jermyn-Street Eintritt verlangen würde (denn es gab dummerweise noch einen zusätzlichen Klingelzug).
Sie hatten sich schwarze Trauerschleifen besorgt, die sie sich rasch um den Arm binden konnten, und ein kleines ovales Bildnis, das Hazel unter den
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