Im Schatten des Verrats (Hazel-Roman) (German Edition)
lassen.
Entschlossen setzte sie sich an den Tisch, entstöpselte das Tintenfässchen und schrieb:
Liebste Maman!
Ich habe mir die Wohnung angesehen, sie ist sehr schön. Ich werde hier bleiben. Gib dem Droschkenfahrer bitte die drei Schachteln mit, die in meinem Zimmer stehen. Ich besuche euch bald.
Ich bin sehr glücklich.
Deine Viola.
Wenn sie mit Viola unterschrieb, fiel ihr das Lügen leichter.
Nach einigem Zögern packte sie einige Pfundnoten aus der Zauberschublade in den Briefbogen ein und versiegelte ihn.
Die Schublade mit dem Geld gab ihr auch sonst alle Möglichkeiten einer wohlhabenden Dame: sie nahm ein paar Pennies und einige Schilling sowie den Zettel mit den Adressen, trat auf die Straße hinaus und winkte einen Straßenjungen heran, er solle drei zuverlässige Boten für sie auftreiben. Zu ihrer Verblüffung kam er kurz darauf mit drei nur wenig älteren Jungen zu ihr. Als sie die Adressen nannte, versicherten sie, sich auszukennen. Also schickte sie die drei älteren Jungen los mit der Anweisung, den drei Frauen Bescheid zu geben, morgen früh zu Mrs. Shandelton zu kommen. Dem jüngeren trug sie auf, ihr eine Droschke zu holen. Sie musste nicht lange warten, bis das Gefährt um die Ecke bog, der Junge bekam sein Geld, der Droschkenfahrer den Brief und den Auftrag, ihr Gepäck zurückzubringen.
Er nannte einen Preis, den sie angesichts ihres neuen Reichtums nicht erschreckend fand, und fuhr los.
Erst, als er außer Sicht war, fiel Hazel ein, dass eine direkte Verbindung zwischen den Häusern der Geheimhaltung nicht eben dienlich war.
Sie ging wieder hinauf in die Wohnung, die in der vierten Etage lag.
Es war nicht ganz still, das übliche Straßengelärme drang recht gedämpft bis hier herauf, aber es war einsam. Also spazierte sie ruhelos durch die Zimmer, besichtigte nochmals den Dienstbotentrakt, ging zurück in die eigentliche Wohnung und fand allerorten kleine Aufmerksamkeiten: eine Schale mit frischen Obst und dem Obstmesserchen gleich daneben, auf dem Schreibtisch neben einigen Blatt ein gefülltes Tintenfässchen mit frisch angeschnittener Feder, eine Schachtel mit Konfekt neben einer Lektüre, immer steckte ein lila Zettelchen dabei: "Für meine Schöne", "Süßes für meine Süße", so dass kein Zweifel blieb, dass diese kleinen Geschenke von ihm kamen und nicht etwa von einer fürsorglichen Haushälterin bereitgestellt waren. Es kam nicht selten vor, dass sie eine Schublade aufzog und nichts anderes darin fand als ein zart violettes, mit Veilchenduft parfümiertes Briefchen, das ein paar handgeschriebene Zeilen enthielt.
Dabei fiel ihr nach einiger Zeit auf, dass die Zeilen jeweils der Umgebung angepasst waren: im Küchenschrank fand sie sachliche Informationen, im Schreibzimmer gab es wortreiche Gedichte, im Salon romantische Liebesschwüre und im Schlafzimmer erotische Versprechungen, die ihr erst die Schamröte in die Wangen trieben und dann die Hitze ins Blut.
So streifte sie durch die Wohnung, kannte schon bald seine Handschrift und meinte manchmal, wenn sie seine Zeilen las, sogar seine Stimme hören zu können.
Das eine Zimmer hatte eine besondere Aussicht, über die Hinterhöfe mit hohen Bäumen hinweg und die Dächer des gegenüberliegenden Häuserblocks mit der Kuppel von St. Paul’s in einiger Ferne: alles ergab eine beeindruckende Silhouette. Der strahlend blaue Himmel mit buschigen weißen Wolken darüber tauchte alles in solche sonnige Wärme, dass Hazel plötzlich dachte: dieses Zimmer soll mir gehören, mir ganz allein, und kein Besucher soll je seinen Fuß hineinsetzen dürfen – nun vielleicht Kirby, aber nur einmal und kurz, damit er sehen kann, wie ich sein Geld investiert habe.
In ihrem Zimmer wollte sie die asymmetrische Ottomane, diesen entzückenden Damensekretär, ein Tischchen mit zierlich gebogenen Füßen ...
So verbrachte sie den Abend mit dem Erkunden der Wohnung, mit Möbelrücken und Durchstöbern der Schrankfächer und Schubladen. Sie nahm, als der Droschkenkutscher eintraf, ihre Päckchen entgegen, ein Briefchen von der Mama war dabei, sie zögerte zwar, es zu lesen, öffnete es dann aber doch, weil sie wissen musste, ob der Bote den Brief mit dem Geld wirklich übergeben hatte.
Er hatte. Und die Mama hielt sich mit ihrer ängstlichen Besorgnis zurück und ließ kein Wort darüber verlauten, dass sie mit dem ganzen Arrangement im Grunde ihres Herzens keineswegs einverstanden war.
Der letzte ihrer kleinen Boten kam erst in der
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