Im Schatten meiner Schwester. Roman
der Vergangenheit angestachelt hatte. Sie zählte darauf, dass sich ihre Hirnwellen mit denen von Robin verbanden.
Doch die Nachrichten waren nicht gut. Nach einer Stunde, in der der Stift des Apparats auf Papier gekratzt hatte, konnte Kathryn es selbst sehen – eine flache Linie nach der anderen, und das während zwölf Aufzeichnungen.
Was konnte der Neurologe sagen? Kathryn weinte leise, und ihr fielen einfach keine neuen Fragen ein, und nachdem er gegangen war, blieb die Schwester noch da und konzentrierte sich nicht auf Robin, sondern auf sie, was sich fast noch schlimmer anfühlte. Wollte sie mit dem Sozialdienst sprechen? Nein. Vielleicht mit einem Priester? Nein.
»Ich will den zweiten Test«, gelang es Kathryn schließlich zu sagen.
Die Schwester nickte und erwiderte: »Es ist ein Prozess«, was gar nicht half. Kathryn wollte keinen Prozess. Sie wollte ihre Tochter.
Lange nachdem die Schwester fort war, stand Kathryn da und hielt Robins Hand, studierte ihr Gesicht, versuchte das, was der Test aussagte, mit der Tochter in Einklang zu bringen, die mit drei Jahren Purzelbäume geschlagen hatte. Charlie stand hinter ihr und Chris und Erin daneben. Molly lehnte hinten an der Wand. Keiner sprach, und das half auch nicht. Es war nicht fair, nichts davon war fair – nicht ihr Schweigen, nicht ihr Schmerz, nicht Robins Schicksal.
Wütend wandte sie sich ihrer Familie zu. »Ihr wolltet alle, dass der Test gemacht wird. Können wir Robin jetzt mehr helfen?«
Charlie sah betrübt aus. Chris umklammerte Erins Hand. Molly war in Tränen aufgelöst.
»Ich habe ja gesagt, es ist zu früh«, behauptete Kathryn und begann erneut zu weinen. Charlie gab ihr ein Taschentuch und hielt sie fest, bis sie sich wieder gefasst hatte. »Manche Patienten brauchen länger Zeit. Das hat der Arzt auch gesagt. Ich werde weiter mit ihr reden. Sie hört mich. Ich weiß das.« Entschlossen wandte sie sich wieder Robin zu. »Und ich weiß, wie man aufmuntert, oder? Hier ist also eine sehr, sehr wichtige Aufmunterung.« Sie beugte sich vor und sprach leise. »Hörst du zu, Robin? Du musst mir zuhören. Wir hatten es doch schon oft mit harten Zeiten zu tun. Du bist gegen einige der besten Läufer der Welt gerannt und hast gewonnen. Und das werden wir auch diesmal tun. Wir werden sie alle überraschen. Wir werden gewinnen.«
Molly tauchte an ihrer Seite auf. »Mom?«, sagte sie mit einer sehr jungen Stimme.
Kathryn wurde bei dem Klang weicher. Molly war nicht oft verletzbar. Es war wie eine Rückblende, eine Erinnerung an das, was Charlie gesagt hatte. »Was denn, Liebes?«
»Vielleicht sollten wir es Nana sagen.«
Kathryn hätte verletzt genug sein sollen, um immun gegen noch mehr Schmerz zu sein, doch da war es. Sie kniff die Augen zu und kämpfte gegen Hysterie an. Sie war sich nicht sicher, wie viel ein Mensch auf einmal aushalten sollte, doch sie erreichte gerade ihre Grenze.
Sie schlug die Augen auf und meinte: »Nana ist nicht sie selbst.«
»Sie hat lichte Momente.«
»Sie kann sich nicht an unsere Namen erinnern und noch weniger verarbeiten, was wir ihr erzählen. Sie ist nicht die Nana, die du gekannt hast, Molly. Außerdem«, sie wandte sich mit einem letzten Hoffnungsschimmer Robin zu, »wäre es grausam, einer Frau ihres Alters etwas zu erzählen, was wir nicht sicher wissen. Das war erst das erste EEG . Es gibt einen Grund, warum sie zwei fordern. Mir ist es egal, was die Ärzte sagen. Ich glaube gar nichts, bevor nicht das zweite gemacht wurde.«
Unter den Meinungsverschiedenheiten, die Molly mit ihrer Mutter hatte, rangierte auf einer Skala von eins bis zehn, wobei zehn die schlimmste war, ihr Streit über ihre Großmutter auf Platz acht. Das war einer der Gründe, weshalb sie nach dem Krankenhaus ins Pflegeheim ging. Die Besuchszeiten waren vorbei, als sie eintraf, doch das Personal war an ihr Kommen und Gehen gewöhnt. Sie lächelte die Frau an der Rezeption an und wurde schnell weitergewunken. Nachdem sie die Treppe in den dritten Stock hinaufgelaufen war, stockte sie jedoch.
»Ist sie allein?«, fragte sie im Schwesternzimmer. Ihr war es egal, dass ihre Großmutter einen Freund hatte. Das Personal behauptete, dass sie keinen richtigen Sex hatten, doch Molly wollte nichts riskieren.
Die Schwester lächelte. »Thomas ist allein in seinem Zimmer. Er ist erkältet.«
Dankbar schlüpfte Molly in ein Zimmer in der Mitte des Gangs, schloss die Tür und drehte sich zu der Gestalt auf dem Stuhl um. Marjorie
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