Im Schatten meiner Schwester. Roman
Webber war achtundsiebzig. Vor fünf Jahren hatte man bei ihr Alzheimer diagnostiziert, und in den ersten zwei Jahren hatte sich ihr Mann um sie gekümmert. Dann verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, und ihrer verschlimmerte sich so sehr, dass sie rund um die Uhr Pflege brauchte. Sie ins Pflegeheim zu geben war die einzige Möglichkeit gewesen.
Um fair zu sein, wusste Molly, dass Kathryn es sich mit der Entscheidung nicht leicht gemacht hatte. Sie waren alle übereingekommen, dass es unpraktisch gewesen wäre, wenn Marjorie zu ihr und Charlie gezogen wäre, da sie so viele Treppen im Haus hatten. Außerdem brauchte Marjorie ständige Beobachtung, und Kathryn war selten zu Hause. Eine liebevolle Einrichtung schien ihre beste Hoffnung auf maximale Sicherheit und Pflege darzustellen. Sie hatten sich viele angesehen, bevor sie sich für diese hier entschieden hatten. Das Pflegeheim befand sich in einem großen viktorianischen Haus mit mehreren Flügeln, die dem Zweck angepasst waren, und strahlte die Wärme aus, die den anderen fehlte. Zu seinen positiven Seiten zählte auch, dass es in der Nähe des Snow-Hauses war.
Kathryn war oft mit ihrem Vater dort gewesen, und nachdem George gestorben war, ging sie allein hin. Dann lernte Marjorie Thomas kennen, und Kathryn rastete aus. Ganz egal, ob George tot war, für sie war es ein persönlicher Affront, dass ihre Mutter einen Freund hatte, und sie besuchte sie nicht mehr. Kathryn behauptete, dass ihre Mutter nicht wisse, ob sie kam oder nicht, und Molly konnte nicht das Gegenteil beweisen. Molly hatte ihre Großmutter immer angebetet. Selbst in ihrem geschwächten Zustand gab Marjorie ihr Trost.
Dieser Abend machte da keine Ausnahme. Ihr Zimmer war angefüllt mit den Erinnerungen an die Vergangenheit – gerahmte Familienfotos, ein Beutel, den Marjorie genäht hatte, der nun von Garn überquoll, ein gewobener Korb, in den Molly kleine Töpfe mit Pothos, Begonien und Efeu gestellt hatte. Inmitten dieser besänftigenden Andenken sah Marjorie total süß und – wie eine grausame Umkehrung – zehn Jahre jünger aus, als sie wirklich war. Ihr Haar war grau, blieb jedoch dicht und war zu einem Knoten frisiert, der ganz wie der von Kathryn aussah. Sie war immer ein Pastellmensch gewesen und trug einen rosafarbenen Morgenrock und las ein Buch – eine so vertraute Tätigkeit für eine langjährige Leserin, dass Molly so tun konnte, als ob sie geistig anwesend wäre.
»Nana«, flüsterte sie und hockte sich neben den Stuhl.
Marjorie sah von ihrem Buch auf und betrachtete sie fragend. Und das war noch eine grausame Wendung. Obwohl man sie gewarnt hatte, dass sie ihre Gesichtszüge verlieren würde, hatte sie das noch nicht getan. Sie schien völlig bei sich zu sein, was manches von ihrem Verhalten noch schlimmer erscheinen ließ.
»Ich bin Molly«, sagte sie, bevor Marjorie sie anders nennen konnte. Ja, sie verstand, was Kathryn empfand, wenn das passierte. Marjorie machte das nicht absichtlich, aber es war trotzdem traurig zu hören. »Was liest du denn da?«
Marjorie sah auf ihr Buch, und ihre Miene erhellte sich.
»Little Women«
, antwortete sie. »Meine Enkelinnen haben dieses Buch geliebt. Haben Sie Kinder?«
Molly hatte einen Kloß im Hals, weil sie nicht als eine ihrer Enkelinnen erkannt wurde. Sie schluckte ihn hinunter und schüttelte den Kopf.
»Nun, das kommt schon noch, so ein hübsches Mädchen wie Sie.« Marjorie klappte das Buch zu und glättete das Cover. Es war nicht
Little Women
, sondern ein Buch mit Strickweisheiten, das Molly in der vorigen Woche mitgebracht hatte, in der Hoffnung, dass die Bilder sie an etwas erinnern würden. Früher einmal war ihre Großmutter eine wunderbare Strickerin gewesen. Ab und zu konnte sie es immer noch. Andere Male blickte sie ausdruckslos auf die Nadeln.
Nun wandte sie sich Molly zu. »Kenne ich Sie?«
Sie sollte es. Es gab Bilder auf dem Nachttisch und der Kommode, andere hingen gerahmt an der Wand. Manche waren an Feiertagen, manche im Urlaub gemacht worden. Alle sollten ihr Gedächtnis anregen.
»Ich bin Molly und vermisse dich, Nana.«
Marjorie lächelte. »Meine Enkelinnen haben mich immer Nana genannt – Sie wissen schon, wie die große, pelzige Ziege, die sich in
Peter Pan
um die Kinder kümmert. Es waren tatsächlich drei Ziegen, und sie wollten über die Brücke auf die Wiese gehen.« Sie senkte die Stimme. »Aber die Brücke gehörte einem Troll.«
»Robin ist krank, Nana.« Hirntot. Molly
Weitere Kostenlose Bücher