Im Schatten meiner Schwester. Roman
dass hinten Mäuse darin lebten. Molly hasste Mäuse – was einer der Gründe war, weshalb sie die Katzen in Snow Hill liebte und sie vielleicht aus gutem Grund auch eine Katze haben wollte, wo sie wohnte –, doch selbst abgesehen davon, würde es ein Wahnsinn werden, den Inhalt dieses Schranks einzupacken. CD s waren mit einem Gewirr von Kopfhörerschnüren, MP 3-Playern und verschiedenen iPod-Generationen hineingeworfen worden. T-Shirts mit Namen von Rennen lagen verstreut herum, dazu Plaketten, eingerollte Fotos und andere Souvenirs. Und da waren noch mehr Tagebücher, die bis in Robins Kindheit zurückreichten. Mein Buch, nannte Robin jedes, und Molly hatte seitdem schon lange jedes einzelne gelesen und vergebens auf das dramatische Enthüllen der dunkelsten Geheimnisse ihrer Schwester gehofft. Als Robin schließlich in die Highschool ging, nannte sie sie Journale und füllte sie mit Berichten über die Rennen, die sie gelaufen war. Sobald sie ihren College-Abschluss hatte, hörte sie auf zu schreiben.
Molly nahm das allerletzte Journal. Es ging darum nur um Rennen. Doch Laufen definierte Robin. Wenn diese Dinge helfen konnten, ihr Krankenhauszimmer persönlicher zu gestalten, wenn eine verborgene Schwingung ihr wieder den Funken vermitteln konnte, der sie aus ihrer Bewusstlosigkeit weckte, dann sollten sie dort sein.
Chris konnte nicht schlafen. Er verstand nicht, wie ein Mensch in der einen Minute lebendig und in der nächsten tot sein konnte. Die Tatsache, dass Robins Herz noch schlug, war rein technisch. Der Schaden war angerichtet. Robin war gegangen.
Er wusste, dass solche Dinge passierten. Er erinnerte sich an den 11. September. Er erinnerte sich an Virginia Tech. Er hatte nur noch niemals persönlich jemanden kennengelernt, der so gestorben war.
Erins Stimme ertönte leise in der Dunkelheit. »Ich wünschte, ich hätte Robin besser gekannt. Ich habe immer gedacht, es würde eine Zeit geben, wo sie nicht mehr so viel liefe, vielleicht sogar, wenn sie ein Baby und wir mehr gemein hätten.« Ihre Stimme war nun in seine Richtung gewandt. »Glaubst du, dass die Tests morgen ein anderes Ergebnis bringen werden?«
»Nein.«
»Was wird deine Mom tun?«
Er hatte keine Ahnung. Sie hatten noch nie einer Katastrophe gegenübergestanden.
»Die Apparate könnten Robin ewig am Leben halten«, sagte Erin. »Würde das Krankenhaus das erlauben?«
»Wenn die Versicherung zahlt.«
»Und tut sie es?«
»Ich kann da noch nicht hingehen, Erin.«
»Warum kannst du das nicht?«, fragte Erin. »Deine Schwester wird bald für hirntot erklärt werden.«
Er hätte vielleicht unwirsch geantwortet, wenn sie nicht selbst so erregt geklungen hätte. Außerdem hatte sie auch recht. Heute – morgen – würden sie mit einer Entscheidung konfrontiert werden. Die Versicherung mochte zahlen. Aber wenn Robins Hirn tot war, was war dann noch der Sinn?
Er stieg aus dem Bett und ging hinunter zu Chloes Zimmer. Im blassgelben Dämmer eines Schmetterlingsnachtlichts sah er sie an. Sie lag auf dem Rücken, die Hände am Kopf und ihr Mund an einer unsichtbaren Flasche saugend. Selbst schlafend war sie süß.
Er konnte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen, doch so war es nicht immer gewesen. Er war nicht bereit für Kinder gewesen und hatte Erin nur zugestimmt, weil sie sich so sehr eines wünschte. Er hatte gehofft, dass es eine Weile dauern würde, bis sie schwanger wurde, doch es brauchte nur zwei Monate; und selbst dann konzentrierte er sich nicht darauf, ein Kind zu haben. Erst als der Ultraschall etwas zeigte, was einem Menschen ähnelte, hatte es ihn getroffen. Ein folgender Ultraschall ließ das Gefühl wachsen, und dann, als Erin dick wurde und sich das Baby unter seiner Hand zu bewegen begann, war er völlig hin und weg. Er betete Chloe von dem Moment an, als sie geboren wurde.
»Es tut mir leid«, sagte Erin von der Tür her. »Ich wollte nicht alles noch schlimmer machen. Bist du okay?«
Er nickte.
Sie stellte sich neben ihn. Nach einer Minute griff sie in die Wiege und strich über das blonde Haar des Babys. »Ich kann mir nicht vorstellen …«
»Ich auch nicht.«
»Ich wusste nicht, was ich zu deiner Mom sagen sollte.«
»Was gibt es da zu sagen? Es gibt keine Lösung.«
»Vielleicht geht es nicht um Lösungen. Vielleicht geht es darum, Kathryn zu helfen.«
Chris spürte, wie Wut aus dem Nichts aufwallte. »Vielleicht hätte Robin daran denken sollen. Wie konnte sie weiterlaufen, wenn sie wusste,
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