Im Schatten meiner Schwester. Roman
wäre es nur wieder etwas Gesundes, was sie jeden Tag zu sich nahm, doch jede Flasche, die Molly fand, schien nichts anderes als Vitamine zu enthalten. Als Nächstes durchwühlte sie das Nachtkästchen neben Robins Bett und dann ihre Kommodenschubladen. Keine Pillen.
Natürlich führte es nicht notwendigerweise dazu, dass man Medikamente nahm, wenn man darüber mit einem Arzt sprach, vor allem, wenn es sich um Robin handelte.
Momentan ratlos, ging Molly wieder ins Arbeitszimmer. Nachdem sie die Rechnungen zurückgelegt hatte, stellte sie auch den Ordner wieder ins Regal. Sie las den Brief der Ärztin noch einmal, bevor sie ihn in den Umschlag steckte. Die Frau praktizierte außerhalb von Concord. Molly konnte sich mit ihr in Verbindung setzen.
Genau, Molly. Wenn das Ziel ihrer Mutter half, würde es jedoch nicht helfen, Charlie oder Robin Lügner zu nennen. Außerdem war der Schaden am Herzen angerichtet.
Molly verstand nicht, warum sie es nicht gewusst hatte. Selbst wenn Robin plante, es vor ihr geheim zu halten, hätte ihr nicht aus Versehen etwas rausrutschen müssen? Sie zermarterte sich das Hirn, versuchte, sich selbst an die winzigste Erwähnung zu erinnern. Ja, Robin hatte sich in letzter Zeit mehr Sorgen darüber gemacht, mit Leuten zusammen zu sein, die krank waren, doch das war verständlich. In den Rennen, für die sie gemeldet war, waren die Einsätze höher denn je.
Frustriert steckte Molly den Brief in die Tasche und wandte sich dem Computer zu. Das hier war etwas, was sie eindeutig tun konnte. So viele Nachrichten voller Sorge in ihrem und Robins E-Mail-Account, liebe Nachrichten von Menschen, die sich sorgten – alle verdienten eine Antwort. Sie schickte einfache Mails, in denen sie die Freundlichkeit des Absenders anerkannte, jedoch wenig medizinische Details preisgab. Ähnliche Nachrichten schickte sie an jene, die telefonische Botschaften hinterlassen hatten.
Als sie fertig war, war es nach eins. Hellwach und mit dem Brief, der in ihrer Tasche steckte wie ein heißer Stein, ging sie in Robins Zimmer. Wie immer herrschte dort das Chaos. Auch hier hätte Kathryn vielleicht gewollt, dass alles so blieb, wie es war. Doch Molly hatte hinter Robin hergeräumt, seit sie zusammengezogen waren, und Robin schien es nie etwas auszumachen. Sie ließ sich gerne verwöhnen. Das Zimmer aufzuräumen war etwas, was sie wollen würde. Es war das mindeste, was Molly tun konnte.
Sie fand Buße darin, Robins Bett zu machen, ein Nachthemd aufzuhängen, schmutzige Kleidung in den Wäschesack hinter der Tür zu schieben. Sie legte zwei Täschchen weg, nahm das Buch, das mit den Seiten nach unten auf dem Bett lag, und machte es zu, wobei sie die Umschlagklappe als Lesezeichen benutzte. Es war ein Buch über Selbstmotivierung. Als sie es wieder auf der Seite aufschlug, die Robin gerade gelesen hatte, hörte Molly plötzlich die Stimme ihrer Schwester, tiefer als ihre eigene und mit einem aus Leidenschaft geborenen Echo.
Das Training ist das Harte. Nicht jeder kann es. Wenn man diese Langstreckenrennen läuft, wo es keine Wasserstationen gibt, keine Fernsehteams, keine Menschenmassen, die einen anfeuern, dann ist es hart. Aber das ist ja der Sinn. Langstreckenrennen helfen, die mentale Härte zu entwickeln, die man braucht, um einen Marathon zu laufen. Während Langstreckenrennen lernt man, wie man damit fertig wird.
Als ihr klarwurde, dass Robin vielleicht gerade ihr letztes Rennen lief, musste Molly weinen; doch zusammen mit den Tränen war da auch ein Hoffnungsschimmer. Wenn jemand mentale Härte besaß, dann war es Robin. Wenn jemand durchhalten konnte, dann sie.
»Glaub an dich«, sagte Robin immer zu den Laufgruppen, »und dann wirst du es schaffen.«
Molly wischte sich die Augen ab, griff nach einer großen Leinentasche und begann damit, sie zu füllen. Da waren ein Bild von Robin mit dem Lorbeerkranz in Boston und ein eingerahmter Artikel, der in
People
erschienen war. Da waren das Laufbuch, bei dem sie Coautorin gewesen war, und von der Pinnwand handgeschriebene Fanbriefe von Amateurläufern. Da waren die Kappe, die sie beim Rennen in London getragen hatte, und das Trikothemd und die Shorts, die sie für New York eingetragen hatte. Da war ihr Glücksbringerarmband. Und ihre Lieblingslaufschuhe. Und ihr Tagebuch.
Molly grub das Tagebuch aus dem Schrank aus, der ein totales Chaos darstellte. Schmal, aber tief war ihr Schrank, voll mit allem, das Robin nicht jeden Tag anschauen wollte. Robin behauptete,
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