Im Schatten meiner Schwester. Roman
sie sie sah. Sie hatte einen Grund, mich anzutreiben. Laufen war das Einzige, was ich tun konnte. Ich hatte sportliche Fähigkeiten geerbt. Sonst war ich in nichts gut.
Und da kommt Molly ins Spiel. Sie sieht zu mir auf – das hat sie immer getan. Sie ist wie meine kleine Dienerin, eine Verlängerung von Mom, die mir hilft. Okay, sie kann dickköpfig sein. Und impulsiv. Und sie kann keine Meile laufen – absolut nicht –, obwohl sie mit mir genug durchgemacht hat, um die Motivationswerkzeuge zu besitzen.
Sie nennt mich einen Star. Doch Stars flackern schnell auf und verblassen wieder schnell, während Molly die gute Erde ist. Sie ist geerdet. Sie erneuert sich.
Mom sieht sie als selbstverständlich, doch was würde ich ohne Molly tun? Sie hat das Haus gefunden. Sie hält es in Ordnung. Sie bezahlt die Rechnungen, weil wir beide wissen, dass ich es niemals rechtzeitig tun würde. Sie hält außerdem die Dinge in Snow Hill am Laufen. Wenn die Leute dort ein Problem haben, kommen sie nicht zu mir. Sie gehen zu ihr. Ich habe einen schicken Titel – Leiterin von Gemeinde-Events –, aber meine Assistentin macht die ganze Arbeit. Sie ist viel besser darin als ich. Deshalb hat Mom sie angestellt.
Molly sagt gerne, dass sie nur ein Gewächshausmensch ist – ha. Mom verlässt sich auf sie. Mom respektiert sie. Mom schaut ihr nicht bei allem, was sie tut, über die Schulter. Mom ruft sie nicht ständig an, um sie an etwas zu erinnern, weil sie weiß, dass es erledigt wird.
Wie kann Molly das nicht erkennen? Sie denkt gerne, sie sei ein Dummchen, das nichts anderes kann, als eine Pflanze umzutopfen. Vielleicht ist das eine gute Herangehensweise. Wenn die Erwartungen niedrig sind, ist es leicht, sie zu übertreffen.
Darum beneide ich Molly. Sie führt ihr Leben selbst. Ich nicht. Ich befinde mich in einer dicken, fetten Fahrrinne. Vielleicht ist es ja wegen dieser Herzgeschichte. Was soll ich tun, wenn sie sich meldet? Man sagt mir, ich solle auf Kurzatmigkeit achten, doch während eines Marathons sind die einzigen Menschen, die nicht kurzatmig sind, die ganz hinten. Und wenn ich nicht laufen kann? Ja, sicher, ich kann als Trainerin arbeiten, aber der einzige Grund, aus dem die Leute mich wollen, ist, dass ich eine tolle Läuferin bin.
Rauch und Spiegel. Dad benutzt diesen Ausdruck, wenn er über die Arbeit spricht, die er gemacht hat, bevor er Mom kennenlernte. Beim Marketing geht es darum, eine Illusion zu schaffen, sagt er, und so fühle ich mich. Meine Schwester ist echt. Ich bin eine Illusion. Mom mag zwar weder Rauch noch Spiegel verwenden, doch sie hat die Illusion geschaffen, dass ich alles kann. Das ist also noch eine Erwartung, und wenn ich ihr nicht entsprechen kann, werden die Leute die Wahrheit sehen – die darin besteht, dass ich eine Sache gut kann. Ich laufe zur Ziellinie, und ich tue das schneller als alle anderen beim Rennen. Was den Rest meines Lebens angeht, laufe ich weg. Ich engagiere mich nicht in Snow Hill, weil ich weiß, ich würde es kaputt machen. Ich verabrede mich nicht mit Männern, die zuverlässig sind, weil sie Frauen wollen, die es auch sind. Ich koche nicht, weil ich lausig darin bin. Ich kann nicht gut mit Babys, weil es ihnen wurscht ist, ob ich auch nur eine Meile laufe, ganz zu schweigen von sechsundzwanzig.
Ich laufe. Punkt. Und wenn das Rennen vorbei ist? Wer werde ich dann sein?
Ich frage mich, ob Peter den Glanz des Wettbewerbs vermisst. Oder ob er sich wie ein Versager gefühlt hat, als er die Turnierwelt verließ. Ich frage mich, ob er die Tennisschule gegründet hat, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, oder ob er es bereichernd findet. Ich frage mich, was er von seiner Tochter erwartet.
Ich könnte Molly mitnehmen, als ob wir als Schwestern einen Ausflug machen. Sie kann ein Geheimnis für sich behalten. Vielleicht sollte ich es ihr erzählen.
Molly war todunglücklich, was in letzter Zeit ein normaler Zustand zu sein schien. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie sehr sich Robin quälte. Sie hatte das Bild einer Frau für bare Münze genommen, die Großes schaffte und liebte, was sie tat. Rauch und Spiegel. O mein Gott, ja.
Fast so tragisch wie die Vorstellung, dass Robin in aller Stille gelitten hatte, war die Erkenntnis, dass Molly ihre Schwester
nicht gut genug gekannt hatte, um es zu sehen.
Doch es gab Antworten. Ein Anruf würde sie bringen, aber nicht von hier aus. Von zu Hause.
[home]
15
M olly stellte das Radio auf dem Heimweg auf
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