Im Schatten von Notre Dame
erhob mich vorsichtig, hielt in der Rechten den Dolch und zog mit der Linken la Esmeralda mit mir zum Sockel der Denkmaschine. So standen wir einander gegenüber, und niemand wußte, wie es weiterge-hen sollte.
Der Herzog spie aus. »Satan ist mit euch verdammten Dragowiten!
Nun gut, ihr habt mich und meine Tochter in eurer Gewalt. Was verlangt ihr?«
Seine Tochter also. Ich fragte mich, wie so ein hässlicher Schlot zu einer hübschen Larve wie la Esmeralda kam.
Villon ergriff das Wort: »Zuerst einmal fordere ich, daß Ihr aufhört, uns als Dragowiten zu beschimpfen.«
Mathias blickte ihn verdutzt an: »Weshalb wollt ihr nicht Dragowiten genannt werden?«
»Weil wir keine sind.«
»Was dann?«
»Wir sind die Wahrhaft Reinen.«
»Die Feinde der Dragowiten?«
»Das könnt Ihr laut sagen, Ägypter!«
»Oh!« Der Herzog stieß in seiner Zigeunersprache eine Reihe saftiger Flüche aus und sagte schließlich: »Ich muß Euch um Verzeihung bitten, Messire, das Ganze ist ein schrecklicher Irrtum. Glaubte ich doch, das Versteck der Dragowiten gefunden zu haben.«
»Ein Irrtum?« ächzte Leonardo und zeigte auf die Toten und Verwundeten. »Wegen eines Irrtums habt Ihr eine Schlacht eröffnet?«
Mathias antwortete mit einem hilflosen Zucken der Mundwinkel.
»Ein Versteck ist dies, da habt Ihr recht«, sagte Villon. »Aber wir verstecken uns hier vor den Dragowiten.«
Der Herzog krächzte: »Ich hielt es für den Unterschlupf der Dragowiten, weil ihre Verbündeten die Templer waren.«
»Richtig, Ägypter, dies ist der Tempelbezirk. Auch nach der Auflö-
sung des Ordens gilt er als Freistatt und ist für die Scharwache unan-tastbar. Deshalb haben wir uns hierher zurückgezogen.«
»Dann sollten wir uns nicht länger befehden«, schlug Mathias vor.
»Ihr seid nicht unsere Feinde.«
»Vorsicht«, warnte Leonardo. »Das könnte eine List unseres schlauen Herzogs sein, damit wir ihn und sein Töchterchen freigeben.«
Mathias warf ihm einen langen Blick zu und gab darauf ein paar Befehle in der Zigeunersprache. Zögernd ließen seine Männer, etwa fünfzehn an der Zahl, ihre Waffen fallen.
Der Herzog wandte sich an Villon: »Wenn ich einen meiner Grafen hinausschicken darf, wird er all unseren Männern befehlen, sich zu ergeben. Dann sind wir in Eurer Hand, Messire, und Ihr mögt über uns richten.«
»Richten? Weshalb?«
»Nicht nur meine Männer sind im Kampf gefallen, auch die Euren.
Ihr habt das Recht, jeden Blutpreis von uns zu fordern.«
Villon und der Herzog standen einander dicht gegenüber und starrten sich an, so eindringlich, als wollte der eine in die Seele des anderen hinabtauchen. Mich mutete es an wie ein stummes Zwiegespräch.
Eine seltsame Aura umgab die beiden Männer; jeder trugen sie eine große Verantwortung, und vielleicht stellten beide in diesen wahrhaf-tigen Augenblicken fest, daß sie im Grunde Brüder waren und daß ein Bruder dem Bruder helfen, nicht aber ihn bekriegen sollte. Denn Villon befahl Leonardo und mir, Mathias und la Esmeralda freizulassen.
Augenblicklich wollten ein paar Zigeuner ihre Waffen aufheben, doch ein scharfer Befehl des Herzogs hielt sie zurück. »Kümmert euch lieber um die Verletzten, um alle!«
Leonardo war bereits dabei, Atalantes Arm mit einem Stück Stoff zu verbinden, das er aus dem Hemd eines gefallenen Zigeuners gerissen hatte. Mitten in der Bewegung hielt er inne, erstarrt wie alle anderen.
Die Schuld lag bei la Esmeralda, die offenkundig wenig von dem Waffenstillstand hielt. Wie aus dem Nichts hervorgeholt, lag plötzlich ein schlanker Dolch in ihrer zarten Hand. Der Griff war mit einem aufrecht stehenden Bären aus gepunztem Gold geschmückt. Ich konnte das recht genau sehen, denn die Klinge drückte unsanft gegen meinen Hals. »Bedroht mich nicht noch einmal mit der Waffe, Gadscho, oder mein Tschuri fährt in Eure Kehle!«
Ich sann darüber nach, ob die zarte Colette nicht der feurigen Esmeralda vorzuziehen sei, da solch ausgeprägte Reizbarkeit bei einer Frau, die noch dazu mit dem Dolch umzugehen weiß, für einen Mann üble Folgen zeitigen kann. Erleichtert stieß ich die angehaltene Luft aus, als die Zigeunerin ihre Waffe verschwinden ließ und die erstaunte Runde mit einem kindhaft-unschuldigen Lächeln bedachte.
»Verzeiht die Erregung meiner Tochter.« Gerade noch ernst, verzog Mathias seine Züge zu einem breiten Grinsen. »Doch wie es aussieht, ist Dom Frollos Kopist nicht nur auf ihren Leib, sondern auch auf ihren Kopf
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