Im Schatten von Notre Dame
der fast so bunt geschmückt war wie der Reiter selbst, zog er hocherhobenen Hauptes vor den Männern, Frauen und Kindern seines kleinen, lauten Volkes her, umringt von seinen Grafen, die ihm Zaum und Steig-bügel hielten.
Als der seltsame Festzug sich über die Notre-Dame-Brücke in die Neustadt ergoss, dämmerte es längst, und ein unheimlicher Feuerschein lag über dem rechten Ufer der Seine. Wie heißt es doch: Am Dreikönigstag reißt der Himmel auf, und die Dreieinigkeit wird sichtbar; wer sie erblickt, hat drei Wünsche frei.
Aber nicht von Gott kam der Flammenschein, sondern vom Grève-Platz, dem unsere Prozession durch die Rue de la Vannerie zustrebte.
Auf der Südseite durch den Fluss, auf den drei anderen Seiten durch hohe, enge und düstere Häuser begrenzt, die zum Schutz gegen das Wasser auf Pfählen standen, bildete die Grève ein Trapez, dessen Umrisse im unsteten Schein des Dreikönigsfeuers zerflossen. Alles schien im feurigen Tanz begriffen, selbst der mitten auf dem Platz aufragende Galgen und sein kleiner Bruder, der Pranger. Und erst recht das Mädchen, das die Blicke der Versammelten auf sich zog. Auch die meinen, und wie!
Was der Schöpfer dem unheimlichen Quasimodo an Schönheit verwehrt hatte, hatte er diesem umherwirbelnden Geschöpf doppelt und dreifach geschenkt. Der schlanke, zarte Wuchs ließ sie größer erscheinen, als sie wohl eigentlich war. Schwarzes, mit bunten Bändern durchflochtenes Haar umspielte ein Gesicht, das noch der jugendli-chen Hübschheit verhaftet war, aber schon bald die glühende Schönheit einer erwachsenen Frau spiegeln würde. Das bezaubernde Wesen, das flink wie eine Wespe über den Platz flog und mit seinen Blicken die Männer in Scharen entflammte, zählte nicht mehr als sechzehn Lenze.
Sie war eine Zigeunerin, eine Nymphe, eine Göttin!
Während ich ihren Tanz verfolgte, dessen Rhythmus die zarten Mädchenhände auf einem Tamburin schlugen, verblasste die Erinnerung an Etiennette Frondeur mit einer Schnelligkeit, die an Zauberei grenzte. Wahrlich, die glutäugige Zigeunerin schien einen ganz eigenen Zauber zu verbreiten. Mit jeder Drehung ihrer bloßen, samti-gen Schultern. Mit jedem Schwung ihrer nackten Beine, die immer wieder verlockend unter dem sich bauschenden bunten Rock hervorlugten. Mit jedem Blitzstrahl aus den schwarzen Augen, der mich traf oder von dem ich mir einbildete, daß er mir galt. Von einem Augenblick auf den anderen war ich der Unbekannten, der Wunderschönen, der Bezaubernden verfallen. Kann es das geben, Liebe, Hingabe, Leidenschaft, nur durch kurze Blicke, Augenblicke wahrhaftig, geschürt?
Ja! Ja, wenn es die Blicke eines so engelhaften Wesens sind. So fühlte ich damals und bemerkte nur am Rande, daß es Hunderten von Männern, die mit mir um das Feuer standen, ganz genauso erging. Vergessen waren der Hunger und die Sorge um eine Anstellung bei Dom Claude Frollo. In diesen Minuten zählten nur der Tanz, das Mädchen, die Liebe.
Mathias Hungadi Spicali, der Herzog von Ägypten, hatte sein wei-
ßes Ross längst angehalten. Auch seine Augen hingen an der Tänzerin, aber nicht nur mit Hingabe, wie es mir schien. Noch etwas anderes lag in seinem Blick. Vielleicht Stolz.
Aus meinem Mund kam wie aus hundert anderen die Frage, wer diese Fee sei.
»La Esmeralda«, hörte ich jemanden andächtig sagen. »Das ist la Esmeralda, die Ägypterin.«
»Die Königin Ägyptens müßte sie sein«, setzte ich hinzu, meinen Blick nicht von dem sich drehenden Fabelwesen wendend. »Eine neue Cleopatra, nicht weniger.«
»Und Ihr wärt wohl gern ihr Julius Caesar?« kam es mit mildem Spott von meinem Gegenüber.
»Sogar ihr Marcus Antonius!« versetzte ich mit Inbrunst und wandte mich um, nur so weit, daß ich la Esmeralda nicht aus den Augen verlor.Der Spötter war niemand anderer als Pierre Gringoire, der glücklose Dichter, der sich dem Umzug wohl oder übel angeschlossen hatte.
In jener winzigen Nische des Verstands, die einem Menschen bei aller Verzückung und Hingabe bleibt, wurde mir bewußt, daß dies eine einmalige Gelegenheit war, mehr über meinen Dienstherrn in spe zu erfahren.
»Ihr habt doch für Dom Claude Frollo gearbeitet, den Archidiakon von Notre-Dame. Könnt Ihr mir sagen, ob …«
Ein plötzlicher Tumult verschluckte meine Worte und beanspruchte Gringoires Aufmerksamkeit. Eine Gestalt in der dunklen, schmucklosen Kutte eines Geistlichen löste sich aus der Zuschauermenge, rannte mit den Worten »Sünde! Frevel!« die
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