Im Schatten von Notre Dame
Tänzerin fast über den Haufen, sprang zur Sänfte und entriss dem merkwürdigen Narrenpapst seinen goldglitzernden Hirtenstab.
Ich erschrak, weniger über den Vorgang selbst als über das Gesicht des Angreifers: Tiefliegende Augen funkelten unter einer hohen, breiten Stirn, die von ersten Falten durchzogen war. Obwohl der Mann keine vierzig Jahre zählte, war sein Schädel kahl, und nur über den Schläfen sprossen Büschel früh ergrauten Haares. Im Feuerlicht wirkte das Gesicht wild und dämonisch. Und es erinnerte mich höllisch an das Antlitz, das mein Alptraum Johannes Gutenberg verliehen hatte.
»Sieh an!« entfuhr es Gringoire. »Das ist ja mein Lehrer in den hermetischen Künsten, Dom Claude Frollo, der Archidiakon. Was in Teufels Namen will er von dem häßlichen Einauge?«
Das also war der Erzdiakon von Notre-Dame. Verwirrt verfolgte ich, wie ein wutentbrannter Quasimodo von der herabgelassenen Sänf-te sprang und sich vor dem Geistlichen aufbaute, als wolle er ihn im nächsten Augenblick verschlingen. Schon wandte eine Anzahl zart-fühlender Weiber sich ab, während andere, Frauen wie Männer, blut-lüstern die Augen aufrissen.
Doch Quasimodo sank vor dem Priester auf die verbogenen Knie und senkte demütig sein klobiges Haupt, ließ es widerstandslos geschehen, daß Claude Frollo den Krummstab zerbrach und ins Feuer schleuderte, ihm die Tiara vom Kopf riß und die Stola aus Goldflitter zerfetzte. Quasimodo duldete das alles nicht nur, er faltete sogar die Hände vor Frollo wie jemand, der um Vergebung bittet.
Erst da erinnerte ich mich der Worte Jehan Frollos und begriff, weshalb der Glöckner den Priester schonte. Mehr laut gedacht als zu anderen gesprochen, murmelte ich: »Aber ja, der Archidiakon ist Quasimodos Bruder!«
»Was redet Ihr da?« Gringoire starrte mich befremdet an. »Dom Claude Frollo ist doch nicht der Bruder dieser Kreatur. Er ist ihr Vater!«
Nun war ich vollends verwirrt. Daß zwischen Archidiakon und Glöckner eine besondere Verbindung bestand, war augenscheinlich.
Sie sprachen miteinander, wenn auch ohne Worte. Was hätte das bei einem Tauben auch nutzen sollen? Mit knappen, kaum wahrnehm-baren Fingerzeigen erteilte der Vater dem Sohn – oder der eine Bruder dem anderen – einen strengen Verweis. Quasimodo duckte sich in einer jämmerlichen Verrenkung seines massigen Körpers zusammen und schien am liebsten im Boden versinken zu wollen.
Claude Frollo gewährte ihm mit einem Griff an die Schulter Absolu-tion und hieß ihn aufstehen. Als Quasimodo ihm wie ein braver Schoß-
hund zum Floß folgen wollte, erholte sich die Narrenbruderschaft von ihrem Schrecken. Nicht gewillt, sich ihren Papst einfach entführen zu lassen, stellten sich die Enttäuschten dem Archidiakon mit drohender Gebärde in den Weg. Einige hielten mit geballten Fäusten auf den Priester zu, um ihm eine handfeste Lektion zu erteilen.
Ein Fingerzeig des Archidiakons, und der Bucklige baute sich vor dem Pöbel auf, sprang vor und ließ seine unförmigen Muskeln spielen. Seine Zunge leckte über den Eberhauer. Mit wütendem, tierhaftem Fauchen, mit wilden Blicken und drohenden Gesten der kräftigen Fäuste trieb er die Menge rasch auseinander. Dann folgte er Frollo in eine kleine, finstere Gasse und verschmolz mit den Abendschatten.
Ich wandte mich um und wollte Gringoire um eine Erklärung bitten, doch der Dichter war ebenso verschwunden wie die schöne Tänzerin. Der Vorfall hatte die Menge ernüchtert, und sie löste sich auf wie Schnee in der Frühlingssonne. Auch Jehan Frollo war nirgends mehr zu erblicken. Eingedenk des wütenden Glöckners hielt ich es nicht für ratsam, dem Archidiakon zu folgen, um ihn nach einer Anstellung zu fragen. Ich mußte die Sache auf den nächsten Tag verschieben und eine weitere Nacht auf kalten Steinen verbringen, noch dazu mit leerem Magen. Paris schien mich wahrlich nicht zu lieben.
Kapitel 4
Ich, der Mörder
Das Feuer auf dem Grève-Platz sank in sich zusammen. Das biß-
chen Hitze, das es noch abstrahlte, wurde von der gierigen Käl-te der heraufziehenden Januarnacht verschluckt. An der Uferseite des Platzes, wo Schiffe und Kähne verlassen im kalten Wasser dümpelten, schlenderte ich zur Notre-Dame-Brücke, um abermals im Schatten der Kathedrale zu nächtigen. Ich kam nicht dazu, die Brücke zu betreten. Bewaffnete Reiter, denen ein langer Musikantenzug folgte, drängten mich ab.
Unter Trompetengeschmetter, Flötenklang, Trommelschlägen und dem Flattern
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