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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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bunter Wimpel zog von der Seine-Insel eine Prozession herüber, die jener des Narrenpapstes an Umfang, Buntheit und Gelärm in nichts nachstand. Es waren die Flamen, die der Universitäts- und der Altstadt ihre Aufwartung gemacht hatten und nun auch die Neustadt beglücken wollten. Ein Bekannter tauchte auf, als die Gesandten schon an mir vorüber waren. In den Reihen der sie begleitenden Pariser entdeckte ich die beleibte Gestalt des Zölestiners Philippot Avrillot. Mit seltsam watschelndem Gang trottete er hinter den vornehme-ren und deshalb berittenen Parisern dahin. Fast widerwillig, wie ein Rind auf dem Weg zur Schlachtbank. Sein runder Kopf pendelte hin und her, die aufgerissenen Augen schienen einen Weg aus der Menge zu suchen, aber er war zwischen anderen Laienbrüdern eingekeilt.
    Die Erinnerung an seine mildtätige Gesinnung versprach die Aussicht auf ein Bett und ein anständiges Abendessen. Da er mitten im Gedränge marschierte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich der Prozession anzuschließen; ich wollte auf eine bessere Gelegenheit warten, auf das großzügige Angebot zurückzukommen, das der Zölestiner mir am Morgen unterbreitet hatte.
    Der Umzug schwenkte nach links und zog über den Saint-Jacques-Platz, wo dicht an dicht die inzwischen geschlossenen Buden der Pariser Schreiber standen. Der Gedanke an meine hartherzigen Kollegen, die jetzt sicher alle einen vollen Bauch und den Geschmack guten Weins im Mund hatten, versetzte mir einen Stich, wurde mir doch schmerzlich bewußt, daß ich vor kurzem noch ein gutes, sorgenfreies Leben gehabt hatte und nun darum kämpfte, nicht endgültig unter das Bettelvolk zu geraten.
    Die flämische Gesandtschaft umrundete in einem sanften Bogen die Türme und Mauern des Grand-Châtelet. Der Amtssitz von Jacques d’Estouteville, Profos und Vicomte von Paris, bildete den trutzi-gen Brückenkopf der aus Stein erbauten Wechslerbrücke und der hölzernen Müllerbrücke. Schon vor drei Jahrhunderten war diese mächtige Festung errichtet worden, um die Cité-Insel vor Übergriffen vom rechten Seine-Ufer zu schützen. Sie war Gefängnis und Gerichtssitz des Profoses. Der trat, den trotz seiner Jugend schon fülligen Leib in ein goldbesticktes Wams gezwängt und ein edelsteinbesetztes Prunk-schwert an der Seite, zur Begrüßung der flämischen Gäste in den Hof seiner Burg. Die Pariser im Umzug verteilten sich, um den Flamen den Vortritt zu lassen. Das war meine Gelegenheit, mit Maître Avrillot zu sprechen.
    Er schien unsere Begegnung bereits vergessen zu haben. Als ich vor ihm stand, ging sein Blick durch mich hindurch. Ich erschrak bei dem, was ich in seinen Augen las: Furcht, Entsetzen. Erst als ich meine Hän-de auf seine Schultern legte, nahm er mich wahr. »Oh, Ihr seid es. Euch schickt der Himmel, vielleicht …« Erneut flackerte Angst, ja Panik in seinen Augen auf, während sein Blick über meine Schulter ging. »Nein, zu spät, sie werden mich töten!«
    War der Zölestiner dem Wahnsinn verfallen? Das laute, schrille Wie-hern eines Pferdes hinter mir lenkte mich von diesem Gedanken ab. Es gehörte einem Franzosen, einem Bürger, keinem Edelmann. Ich kannte ihn und auch sein getupftes Ross. Am Morgen, als ich vom Hôtel-Dieu kam, wäre ich fast unter die Hufe des großen Apfelschimmels geraten. Und wieder schien es, als habe der Reiter sein Tier nicht in der Gewalt. Der Versuch, Platz für die Flamen zu machen, beunruhigte das Pferd. Es scheute, stieg mit den Vorderbeinen in die Luft und hät-te, so sah es aus, seinen Herrn beinahe aus dem Sattel geworfen. Doch auch als der Gaul wieder mit allen vier Hufen auf der Erde stand, war die Gefahr noch nicht gebannt. Das Tier brach aus, verfiel in einen schnellen Galopp und hielt genau auf Maître Avrillot und mich zu.
    Fast schien es mir, als lenke der Bürger sein Tier absichtlich in unsere Richtung.
    Ich sprang nach links und wollte den Zölestiner mit mir reißen. Der aber machte in seinem Schrecken eine ungeschickte Bewegung zur anderen Seite. Dadurch entging er meinem Zugriff, jedoch nicht dem ra-senden Apfelschimmel. Das laut schnaubende Tier rannte den Laienbruder über den Haufen und kam erst vor einer Mauerwand des Châ-
    telet zum Stehen.
    Besorgt beugte ich mich über Maître Avrillot, der reglos am Boden lag. Ich sah das Blut an seinem Gewand, und mir schwante nichts Gutes. Hoffnung kam auf, als seine Lider sich öffneten, dann die Lippen.
    Er wollte etwas sagen, doch sprudelte nur ein Blutschwall aus

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