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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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seinem Mund und benetzte mich. Kein Zweifel, dem Mann war nicht mehr zu helfen. Die Hufe hatten sein Innerstes zerstampft.
    Mit einer letzten Kraftanstrengung faßte er meine Hand und drück-te etwas hinein. »Das Geheimnis … bei Euch …« Seine Stimme zitterte und erstarb. Mit heftig zuckendem Gesicht näherte er seine blutigen Lippen meinem linken Ohr und röchelte, kaum verständlich, ein einziges Wort. Ich verstand es nicht. Es hörte sich an wie ›Anker‹ oder wie
    ›Danke‹.
    Letzteres ergab einen Sinn. Er bedankte sich dafür, daß ich ihn hatte retten wollen. Rührung wallte in mir auf und sandte heiße Wellen durch meinen Leib. Was für ein gutes Herz mußte der Zölestiner haben, daß er die Minute seines Todes einem Fremden weihte.
    Was er mit dem ›Geheimnis‹ meinte, war mir unklar und würde es wohl auch bleiben. Avrillots Kopf fiel kraftlos nach hinten und rollte zur Seite. Die Augen, weit aufgerissen und glasig, starrten ins Leere.
    Sein Atem war erloschen.
    »Er ist … tot!« stellte ich fest, und das Wort machte eilends die Runde.Eine kreischende Stimme übertönte das entsetzte Gemurmel: »Der Bettler hat den Zölestiner ermordet! Ich sah es genau: Er stieß den Un-glücklichen so vor mein Pferd, daß ich nicht mehr ausweichen konnte. Was hat der abgerissene Strolch überhaupt hier zu suchen? Ergreift den Mörder!«
    Der Schreihals war niemand anderer als der Reiter des Apfelschimmels. Das Pferd hatte sich beruhigt, der Mann keineswegs. Er hatte sich im Sattel aufgerichtet und wies mit ausgestrecktem Arm auf mich.
    »Mörder!« schrie er wieder, und Schaum trat vor seinen Mund.
    »Packt den Mörder!«
    Erst als die Menge sich drohend um mich scharte, begriff ich das ganze Ausmaß der Anschuldigung. Nicht nur beschuldigte der Un-glücksrabe von einem Sonntagsreiter einen anderen Mann, den Tod des Zölestiners verursacht zu haben, er meinte auch noch mich, Armand Sauveur de Sablé!
    So überrascht und verwirrt ich war, eins stand mir doch klar vor Augen: Was immer ich zu meiner Verteidigung vorbringen würde, dem Reiter würde man mehr glauben. Er war ein angesehener Pariser Bürger, ich dagegen ein Bettler ohne Ruf und Freunde. So einen wie mich hängte man schnell auf dem Grève-Platz oder auf dem Montfaucon, dem Pariser Galgenhügel. Da war ich vergessen, bevor noch Krähen und Raben meine Augen auspickten.
    Um mich herum erhoben sich die Mauern des Châtelet, Hauptquar-tier der Wachen und Gefängnis. Einen ungünstigeren Ort hätte ich mir nicht aussuchen können, um des Mordes beschuldigt zu werden.
    Aus wohl verständlichen Gründen ergriff ich die Flucht.
    Inzwischen hatte sich vollends die Nacht über Paris gesenkt. Licht kam nur von den erleuchteten Fenstern des Châtelet und von den Fak-keln, die einige aus dem Umzug mit sich führten. Ich drückte mich in den Schatten der nächsten Mauer, rannte zu dem Torbogen, durch den die Prozession auf den Innenhof gelangt war, und sprang nach drau-
    ßen, ehe die bewaffneten Wächter ihre Hellebarden gegen mich richten konnten. Die nächstbeste der kleinen Gassen, die sich vor mir auf-taten, verschluckte mich.
    Hinter mir hörte ich Schreie, Waffenklirren, Schritte und Hufgetrappel. Sie suchten mich, natürlich. Wahrscheinlich bot in dieser Minute der Profos von Paris seine gesamte Scharwache auf, um mich ein-zufangen. Dazu die berittene Zwölferschar, seine persönliche Leibwache; die städtischen Bogenschützen, die zu Ehren der flämischen Gesandten im Châtelet aufmarschiert waren; und die königlichen Bogenschützen, von denen eine Abteilung als Ehrengeleit die Prozession begleitet hatte. Halb Paris mußte hinter mir hersein. Und der Lärm, der mich verfolgte, bestätigte das.
    Ich konnte nur eins tun: fortlaufen. Durch dunkle Gassen, von denen eine aussah wie die andere. Vorbei an finsteren Häusern mit geschlossenen Türen und Fensterläden sowie an hell erleuchteten Schenken, aus denen Gesang und Gelächter drangen, wie um mich zu verhöhnen. Über Plätze, die verlassen waren. Und über solche, auf denen Weinselige auf gewiß fachkundige Weise grölend disputierten, ob für diese kalte Jahreszeit ein kräftiger, mit Pfeffer und Honig gewürzter Burgunder oder ein schwerer Port der bessere Schlaftrunk sei.
    Mein Atem pfiff und rasselte wie ein ganzer Trupp Spielleute. Tausend winzige Messer stachen in meine Seiten und machten jeden Schritt zur Qual. Unter anderen Umständen hätte ich länger ausgehalten, aber mit seit Tagen nichts

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