Im Schatten von Notre Dame
ich sein Sprachrohr. Und deshalb bin ich Ludwig, wenn er sich auf eine gefährliche Mission begeben muß. Wie in dieser Nacht, in der ich einen Anschlag befürchtete und recht behielt.«
Ich wandte mich an den Schotten. »Und Ihr, Graf, gehört zur Garde des Mignons?«
Durward lachte herzhaft. »Die Bezeichnung ist mir neu, aber durchaus zutreffend. Meine Gefährten draußen und ich haben frü-
her unseren Dienst in des Königs schottischer Garde versehen. Inzwischen sind wir mit Titeln und Lehen bedacht und in den Ruhestand versetzt worden, aber wenn der Seneschall uns ruft, sind wir zur Stelle.«
Ich fragte mich, was für heldenhafte Jugendtaten dieser Schotte vollbracht hatte, wenn er im besten Mannesalter schon den Ruhestand ge-noß.
Commynes sah ihn an. »Der Graf von Croye ist der Treueste, Tap-ferste und Geschickteste von allen. Deshalb sandte ich ihn nach Paris, wo es sich ergab, daß er dem jungen Herrn hier beistehen konnte. Seine eigentliche Mission war es, mich über die Vorgänge in der Haupt-stadt zu unterrichten und über den König zu wachen, der leichtsinni-gerweise auf diesen Schurken Coictier hört.«
»Coictier und der König waren bei Dom Claude Frollo«, sagte ich.
»Ich weiß.« Der Seneschall nickte. »Bruder Villon erzählte es mir.
Und es sieht ganz so aus, als sei Coictier der Großmeister der Dragowiten, obwohl ich mir nicht sicher bin.«
»Wer sonst sollte es sein?« fragte ich.
»Vielleicht ein anderer aus dem Kreis der königlichen Ratgeber. Ihr habt den Großmeister belauscht, Maître Sauveur, vielleicht erkennt Ihr ihn wieder. Deshalb müßt Ihr morgen im Schloß sein, wenn ich Ludwig und seinen Beratern von dem Anschlag berichte.«
»Ich soll ins Schloß, in diese Festung? Wie sollte mir das gelingen?«
Commynes blickte mich ruhig an. »Der heilige Mann, den Ludwig aus Kalabrien kommen ließ, wird uns helfen. Ludwig erhofft sich von dem Einsiedler Linderung seiner Alterskrankheiten und eine Verlän-gerung seines verlöschenden Lebens. Der Heilige ist wirklich außeror-dentlich fromm. Er lehnte Geschenke ab, ruht im Stehen und treibt das Fasten auf die Spitze, indem er weder Fleisch noch Fisch, weder Milch noch Käse, weder Butter noch Eier zu sich nimmt.«
»Wie ungesund!« entfuhr es mir.
»In der Tat«, ergriff Commynes mit einem verständnisvollen Nicken wieder das Wort. »Aber uns wird es helfen. Um dem heiligen Mann eine Freude zu machen, läßt Ludwig regelmäßig Obst und Wurzeln ins Schloß kommen. Morgen ist die nächste Lieferung fällig. Und Ihr, Armand, werdet sie begleiten.«
Der Gedanke an die strenge Bewachung des Schlosses ließ mich erschauern, und ich seufzte: »Wenn das nur gut geht!«
Der Seneschall lächelte wie jemand, der einem trotz eigener Zweifel Mut zu sprechen will. »Das lasst nur meine Sorge sein, mein Lebens-retter.«
Im Gegenzug dafür, daß ich sein Leben gerettet hatte, brachte Philippe de Commynes das meine in Gefahr. So dachte ich, als die kleine Wagenkolonne den Schutz des Waldes verließ und durch das Ödland dem Nest der Großen Spinne entgegenrumpelte. In der Nacht hatte der Plan des Seneschalls so einfach geklungen. Jetzt, im gleißenden Licht der Mittagssonne, die auf Ludwigs Festung herabbrannte, kam ich mir vor wie die Fliege, die Dom Frollo ins Netz der Spinne geschleudert hatte.
Die drei Wagen kamen aus Tours, wohin Schiffe die Nahrung für den frommen Einsiedler gebracht hatten. Im Dorf Plessis, das sich noch längst nicht von der Walpurgisnacht erholt hatte, war ich auf den mittleren Karren gestiegen, als gehöre ich zu den Fahrern. Jetzt blickte ich zu der Befestigung hinauf und hoffte, daß die Wachen mein falsches Spiel nicht durchschauten. Der König durfte nicht erfahren, daß sein Mignon ein Reiner, ein Ketzer, war. Hätte die Große Spinne das gewußt, hätte sie wohl selbst ihren Bruder im Geiste und in der Seele dem Scheiterhaufen überantwortet.
Und dann war es für jede Umkehr zu spät. Die Wagen rol ten mit dumpfem Rattern über die Zugbrücke vor der äußersten Mauer, um vor dem Tor anzuhalten. Der Wachhabende löste sich aus der Reihe seiner schwerbewaffneten Schar, um nach der Parole zu fragen. Das Begleitper-sonal der Kolonne war aus Commynes’ Vertrauten rekrutiert, und ich hoffte sehr, daß sein Vertrauen in die Männer gerechtfertigt war.
»Im Licht der Sonne vergeht, was nicht des Königs ist«, antwortete einer der beiden Männer auf dem ersten Wagen, und der Wachhabende nickte. Auf seinen Wink
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