Im Schatten von Notre Dame
zwischen Lampe und Linse schob. Jemand, Tommaso oder Villon, zerrte an meinem Arm und zog mich mit sich. Wir konnten nur in eine Richtung fliehen: weg von den Armbrustern und der Treppe, tiefer hinein in das unterirdische Reich.
Hinter uns hörten wir das Sirren von Armbrustbolzen und einen kurzen Schmerzensschrei. Er wurde von der barschen Stimme des Rittmeisters übertönt: »Ihnen nach! Fangt sie, oder tötet sie!«
Kapitel 4
Machina Mundi
War die Finsternis unsere Verbündete oder unsere Feindin? Sie umhüllte uns mit ihrem schwarzen Mantel, schützte uns vor der Entdeckung durch die Dragowiten und vor den tödlichen Bolzen.
Aber sie zog uns auch immer tiefer in den Stollen hinein, der Machina Mundi entgegen – dem Verhängnis. Wir rannten, stießen uns immer wieder die Köpfe an der unregelmäßigen Decke, stolperten und stürzten, rappelten uns auf und hasteten weiter, um Biegungen, durch Abzweigungen, ängstlich bemüht, einander nicht zu verlieren und den Abstand zu den Verfolgern zu halten. Daß sie unsichtbar waren, nur in Form von schnellen Schritten, lautem Keuchen und vereinzelten kurzen Rufen wahrzunehmen, machte sie nicht weniger gefährlich. Im Gegenteil, sie waren wie Phantome, Verbündete oder Ausgeburten dieser unterirdischen Nacht, die jederzeit und von überall her auftauchen konnten. Die Gefahr, die der Mensch sich ausmalt, ist unendlich viel erschreckender als die, die er mit den Augen sieht.
Vor uns erschien ein kaum wahrnehmbares Glimmen, wie ein noch nicht zur Gänze geborenes Licht, das stärker wurde, dem Schwarz erst Schemen, dann Konturen entriss. Wir nahmen wieder Gestalt an, er-hielten die Gewissheit, Menschen zu sein und nicht die körperlosen Bewohner eines Schattenreichs. Wir alle waren abgehetzt und zer-schrammt, aber das schlimmste war: Wir zählten nur noch vier. Atalante war zurückgeblieben, von de Harlays Männern gefangen oder von einem Armbrustholzen um sein junges Leben gebracht.
Als hinter uns der Hall von schnellen Schritten lauter wurde, hasteten wir weiter, dem Licht entgegen. Obwohl es uns die Körper, die Existenz zurückgab, begrüßten wir es nicht, denn es enthüllte uns auch den Jägern, machte uns zu Zielscheiben für ihre Geschosse. Zugleich beleuchtete es die Wände aus jahrhundertealten Gesteinsbrocken, hier und da mit Schriftzeichen verziert, die wir im Vorbeilaufen zu undeutlich sahen, um sie zu entziffern. Deutlich genug allerdings, um zu erkennen, daß sie römischen und griechischen Ursprungs waren.
»Kein Zweifel, ein alter Tempel der Isis«, keuchte Leonardo.
»Wohl ein zweiter Tempel unter dem bekannten Tempel«, fügte Villon hinzu. Sein Atem rasselte gefährlich. Hätten wir ihn nicht abwechselnd mitgeschleppt, er wäre den Häschern längst in die Hände gefallen. »Ein höchst geheimer Ort für nicht minder geheime Zusammenkünfte und Rituale. Vielleicht wurden hier verbotene Götzendienste vollzogen, vielleicht Menschen geopfert.«
Das Licht wurde spürbar hel er und enthül te uns einen atemberau-benden Anblick. Ich blieb stehen, als sei ich gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Was sich in dem rötlichen Leuchten vor uns ausbreitete, konnte nur die Höl e sein. Auch ohne die Dämonen, die hier ihrem Teufelswerk nachgingen, wäre die riesige Höhle, in die der Tunnel mündete, mächtig erschienen, wie ein in die Tiefe getriebenes Gegenstück der gen Himmel strebenden Kathedrale von Notre-Dame. Nicht wie die Kirche zur Ehre Gottes, sondern zum Ruhme Satans erschaffen.
Felsnadeln wuchsen aus dem Boden, der Decke und aus den Seiten-wänden, manche einzeln, andere vereinigt zu steinernen Knoten, Ösen oder gar Treppen und Brücken, die von Menschenhand ausgebaut worden waren. Übergangslos verschmolzen diese Wunder der Natur mit der Menschen Arbeit, die vor vielen Jahrhunderten von den Anbetern der Isis geleistet worden war. Von Kannelüren durchzogene Säulen und Standbilder aus der antiken Mythologie reckten sich zur Felsdek-ke empor, einige bewundernswert gut erhalten, andere nur noch klägliche Gesteinsbrocken, die hier und da frische Bruchspuren aufwie-sen. Offenbar hatten die Dämonen, die jetzt in dieser Hölle herrschten, die Überreste des alten Kults beseitigt, um Platz für ihr Ungeheuer zu schaffen, das sich durch die ganze Höhle erstreckte …
Die Machina Mundi!
Groß hatte ich sie mir vorgestellt, aber so gewaltig denn doch nicht.
Vor allem nicht so unüberschaubar, verworren und so lebendig wirkend. Ich hatte an eine
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